Alben der Woche:"Wer soll mich denn jetzt noch lieben"

Ryan Adams veröffentlicht das erste Album seit den Missbrauchsvorwürfen, Paul McCartney führt grandios das Erbe der "Beatles" fort. Und "Cyberpunk 2077" ist - als Soundtrack - eine Edeljukebox.

Diverse Künstler - "Cyberpunk-Soundtrack" (Lakeshore Records)

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(Foto: Label)

Eigentlich könnten wir uns die diese Ausagbe der "Alben der Woche" sparen, weil derzeit eh alle "Cyberpunk 2077" spielen und in den Pausen ihre riesige Enttäuschung im Internet abreagieren. Man muss Verständnis dafür haben. Der Hype war so groß, dass selbst ein skeptischer Randbeobachter erwarten musste, dass der Spieleentwickler CD Projekt Red mit seinem Opus magnum mindestens den Sex neu erfindet, die Corona-Krise beendet oder wenigstens die Existenz Gottes beweist. Ist dann alles nicht passiert. Dafür ist der Cyberpunk-Soundtrack (Lakeshore Records) eine Edeljukebox geworden. Nahezu alle Songs, die dieser Tage in zwei Teilen erscheinen, stammen von großen Namen und wurden extra für die fiktive Stadt Night City verfasst. Mit dabei Run The Jewels, Sophie, Grimes (ihr Song heißt "Delicate Weapon" und ist musikalisch näher an ihren frühen Aufnahmen als am aktuellen Album), Health, Nina Kravitz und so weiter und so fort. Ein Regenbogen durch die Genres: Im Spektrum zwischen "Blade Runner"-Ambient und robustem Industrial angesiedelt, spielt der OST souverän auf der Affektklaviatur digitaler Endzeitromantiker. Sehr fluide, trotzdem zupackend, futuristisch poliert, aber dreckig wie die Straßen der Nachtstadt. Sogar Zeitgenossen, die Videospiele für Teufelszeug halten, oder deren Hardware zu schlecht ist, um "Cyberpunk" zu spielen, können so in den Genuss von der Metropole der Zukunft kommen. Wenn man den Soundtrack hört, verwandelt sich sogar Aschaffenburg in eine pulsierende Megacity. Na ja, mit ein wenig Fantasie.

"Café Exil - New Adventures In European Music 1972-1980" (Ace Records)

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(Foto: Label)

Wo wir einmal bei Städten und ihren Soundtracks sind. Bei Ace Records ist gerade "Café Exil - New Adventures In European Music 1972-1980" erschienen. Das namensgebende Café Exil befand sich in Kreuzberg. Wiener Künstler hatten es begründet, weil es in Berlin sonst "nur Currywurst und Erbsensuppe" zu essen gab. David Bowie, Iggy Pop und Brian Eno hingen dort herum, aber auch Künstler wie Joseph Beuys. Kuratiert hat die Compilation Bob Stanley von Saint Etienne. Er wollte der Frage nachgehen, was David Bowie und Iggy Pop dort wohl so gehört haben - und landete bei Michael Rother, Amon Düül II, Popol Vuh, Cluster und natürlich Brian Eno. Auch "Jennifer", einer der schönsten Tracks der deutschen Krautrockband Faust ist dabei. Dessen Lyrics bestehen nur aus zwei Zeilen: "Jennifer, your red hair's burning / Yellow jokes come out of your mind". Eine Gitarre wiederholt gelassen immer dieselben Noten, bis man eingelullt ist in jene Bedeutungsschwere, die ein anbrechender Morgen hat, wenn man gerade nach Hause geht, während die ersten Mitmenschen schon wieder auf dem Weg zur Arbeit sind und die U-Bahn einen langsam in den Schlaf ruckelt. Oder auch: Eine Platte für einen vollkommenen Winternachmittag. Auf dem Cover prangt in voller Schönheit der Steglitzer Bierpinsel in roter Bemalung, der Himmel in seinen Fenstern gespiegelt wie eine uneinlösbare Verheißung. Bleibt nur die Frage, was "gelbe Witze" sind? Man würde doch zu gerne mal einen hören.

Ryan Adams - "Wednesdays" (Pax Am)

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(Foto: Label)

Die Verfahren gegen Ryan Adams sind ja eingestellt, die Missbrauchsvorwürfe aber nicht ganz aus der Welt. Deshalb könnte die allzu bekannte Trennung von Künstler und Werk hier helfen. Es kann einer, sagt diese Trennung, Menschen missbrauchen, emotional und auch physisch, und trotzdem grandiose Kunst erschaffen. Und wer noch will, kann sich an dieser Kunst weiter erfreuen. In diesem Sinne ist "Wednesdays", das gerade unangekündigt veröffentlichte neue Album: rundheraus grandios. Großes, völlig unverstelltes Songwriting, splitternacktes Storytelling. Das Beste, was er seit "Ashes & Fire" (2011) gemacht hat. Womöglich sogar seit "Heartbreaker" (2000). Adams gräbt, über ein paar Gitarren, ein bisschen Klavier, genau richtig verpatschte Drums und viel Hall mit beiden Händen tief in der eigenen Psyche. Und wühlt zwischen all den Pillen und dem Schnaps, dem Koks, den Psychopharmaka, den Dämonen und Manien, diesen ganzen doch sehr männlichen Leidensmotiven also, enorm direkte Emotionen hervor: "Who is going to love me now, if not you?" fragt er im gleichnamigen Song. Wer soll mich denn jetzt noch lieben, wenn nicht du? Dazu wäre dann alles gesagt. Und wer jetzt doch noch mehr Diskurs zum Menschen möchte, findet hier eine ausführliche Rezension.

Slow J - "sLo-Fi" (Sente Isto)

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(Foto: Label)

Man mag es kaum glauben, aber auch in Portugal gibt es Rapper. Sie sind inzwischen einfach überall. Die Stilrichtung "Hip-Hop Tuga" hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Der aus Setúbal stammende Rapper Slow J jedoch macht jetzt trotzdem Fado. Nein, nicht wirklich. Aber immerhin mediterran-melancholische Musik. Das Jahr war am Rande Europas wohl mindestens so einsam wie im Rest der covidgebeutelten Welt. Vielleicht ist "sLo-Fi" deshalb ein Album mit sehnsuchtsvollen Gitarren über wiegenden Drumloops? Sanft grooven die Instrumentaltracks durchs erschöpfte Hirn. Seelenschutzklänge auf dem winterlichen Sofa, darin eine gute Dosis Hoffnung auf den Süden. Der Albumtitel ist kein Rechtschreibfehler, auch seine Songtitel schreibt Slow J eigenwillig, nämlich immer zusammen, "TryAndMeltMyFaith" oder "WhatDoesYourGodSoundLike". UnserGottHältEhrlichGesagtMeistensDenMund. SchonSeitJahrtausenden. Aber wenn er mal was sagen würde, dann bestimmt auf Portugiesisch!

Avenade - "Vice Versa in Such Things"

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(Foto: Label)

Und wenn man es sich dann so richtig gemütlich gemacht hat, kommt Avenade mit "Vice Versa In Such Things" und macht einen wieder wach. "Vice Versa in Such Things" ist kohäsiver, epischer Noiserock mit pointierten Lyrics. Matt Hawkins, der Songwriter hinter dem Projekt, hat ein besonderes Gespür für den Moment, in dem der Gitarrenlärm zur Melodie wird, kurz verharrt, ein einzelner Takt gezupft wird, auf einmal erstaunlich sanft ... um einem dann wieder in die Fresse zu hauen. Aber seien wir ehrlich: Vermutlich haben wir es verdient.

Maggie Rogers - "Notes From The Archive: Recordings 2011-2016"

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(Foto: Debay Sounds)

Maggie Rogers wurde 2016 plötzlich bekannt, nachdem Pharrell Williams sich sehr öffentlich in ihren Song "Alaska" verknallt hatte. Sie hat bisher drei Alben veröffentlicht, zuletzt "Heard It in a Past Life", mit dem sie 2019 auf Welttournee war. Jetzt erscheint kurz vor Jahresende "Notes From The Archive: Recordings 2011-2016". Es ist - wie schon der Titel andeutet - eine Sammlung von Songs, die vor ihrem viralen Ruhm entstanden. Rogers Songs sind unaufgeregt gekonnt, an ihnen ist nichts zu viel oder zu wenig. Sie erzählen von einer anderen Art Pop, der nichts braucht als Schlagzeug und Gitarre, Erzählungen und warmes Licht.

Paul McCartney: "McCartney III" (Capitol/Universal Music)

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(Foto: dpa)

Ein rares Beispiel dafür, wie die kreativ prekäre Corona-Situation das Beste aus einem Künstler herausholen kann. Paul McCartney, fürstlich amtierender Ex-Beatle, veröffentlichte schon 1970 und '80 in Isolation produzierte Platten. Es waren obskure Höhepunkte seiner Diskografie. Das dritte Do-It-Yourself-Album, 2020 im Lockdown in Sussex aufgenommen, setzt nun die Triumphreihe fort: Experimente mit Kraut- und Heavyrock, die ihm bestens zu Gesicht stehen, dazu einige seiner poetisch kühnsten, am schärfsten zu Herzen gehenden Songs der letzten 25 Jahre. Unerwartet brillant. Eine ausführliche Rezension gibt es hier.

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(Foto: Christopher Polk/AFP)

"Wer soll mich denn jetzt noch lieben, wenn nicht du?": Sänger Ryan Adams. Eine ausführliche Rezension zum Album gibt es hier.

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