Ai Weiwei in Berlin:Zu wenig Kunst, zu wenig Politik

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Ai Weiwei präsentiert sein "Manifest ohne Grenzen" in der Berliner Kulturbrauerei und erzählt plastisch von seiner Kindheit in der Verbannung. Doch die Empathie bleibt auf der Strecke.

Von Dorion Weickmann, Berlin

Empathie ist das Gebot der Gegenwart, die Lösung für viele Probleme und die Tugend, die den Homo sapiens über sich selbst hinaushebt. Soviel steht fest, bevor in der Berliner Kulturbrauerei vier Leute auf dem Podium Platz nehmen, um die Botschaft noch einmal unters Volk zu bringen. Drei von ihnen werden sich neunzig Minuten lang angeregt unterhalten, und das zahlreich erschienene Publikum aus Bundestagsabgeordneten und Bildungsberlinern wird ihnen an den richtigen Stellen applaudieren.

Die vierte Person sitzt derweil auf dem Trockenen. Mit rotem Kugelschreiber kritzelt sie diskret ein paar Notizen aufs Papier und fängt irgendwann an, mit der Henkelkette ihrer Handtasche zu spielen. Gewiss wird sie dafür bezahlt, auf ihren Einsatz als Ai Weiweis Übersetzerin zu warten, der hier sein in Buchform verpacktes "Manifest ohne Grenzen" vorstellen soll. Aber hätte man nicht überlegen können, ob der Starkünstler die Hilfestellung wirklich benötigt, statt die Frau zur stummen Statistin zu degradieren?

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Die Moderatorin des Abends, die Journalistin und China-Expertin Gisela Mahlmann, hat jedenfalls gleich zu Beginn einen Dreisprachenmix aus Deutsch, Englisch und Chinesisch versprochen. Also harrt Frau Sowieso (den Namen zu drucken, hält offenbar niemand für nötig) an Ai Weiweis Seite aus, um ihm sprachlich zu sekundieren. Der gerade erst nach Cambridge verzogene Installationsspezialist zieht es allerdings vor, mit Mahlmann und Markus Löning, dem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, Englisch zu parlieren. Weshalb Frau Sowieso nicht zum Zuge kommt und am Ende weder mit einem "Pardon" noch mit einem "Danke für Ihre Geduld" belohnt wird.

Diese kleine Geste der Aufmerksamkeit wäre das Mindeste gewesen für eine Fragestunde, die sich den ganz großen Themen verschrieben hat - allesamt dazu angetan, das gesellschaftliche Empathiepotenzial zu triggern: Flüchtlingsschicksale und das Los chinesischer Dissidenten, die skandalösen Einschüchterungsmanöver in Hongkong und der "Honeymoon"-Kurs, den Ai Weiwei diagnostiziert, wenn die Rede auf Merkels Reisen nach Peking kommt. Doch Empathie fängt beim Nachbarn an. Insofern führen die drei Diskutanten unfreiwillig vor, was sie selbst als eklatante Fehlentwicklung kritisieren: Ignoranz gegenüber Mitmenschen, und sei es eine Honorarkraft, die man links liegen lässt - gemäß politisch korrekter Diktion: ausgrenzt.

Nichtsdestotrotz wird viel über Ausgrenzung, Abwehr, Erniedrigung geredet. Ai Weiwei erzählt plastisch von seiner Kindheit in der Verbannung, von Besuchen in Flüchtlingscamps und dem Gefühl, allen, die ihre Heimat verlieren und verlassen, nahe zu sein. Er hat genug von der nationalen Nabelschau, die Deutschland betreibt, genug auch von Berlin und dem ganz alltäglichen Rassismus. Substanzielleres trägt er kaum bei. Anders als Markus Löning, der den Abstieg von den Gipfeln der Willkommenskultur 2015 in die Niederungen der Xenophobie nachzeichnet und schildert, wie beschränkt der Politikerhorizont aus Sicht der Wirtschaftseliten ist: verengt auf den eigenen Wahlkreis und die Risiken einer globalisierten Welt, statt Chancen zu erkennen und auszuschöpfen.

Ai Weiwei schwankt derweil zwischen Zuversicht und Fatalismus. "Happy to hell", sagt er am Ende. "Wir werden alle zur Hölle fahren." Aber vorher wird der Allrounder noch seine erste Oper inszenieren, Giacomo Puccinis "Turandot". Getreu seiner Devise: "Alles ist Kunst. Alles ist Politik." An diesem Abend gab es von beidem zu wenig.

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