Den "Public Intellectual" gab es in Deutschland schon, als er noch nicht unter seinem angelsächsischen Namen auftrat. Eng verbunden war er mit der Mediengeschichte der noch jungen Bundesrepublik, mit der Fülle neu gegründeter Zeitschriften, dem Aufstieg des Taschenbuchs und vor allem mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In dieses Mediengeflecht und in die politische Geschichte Westdeutschlands an der Schwelle zur Bildung der Großen Koalition unter Kiesinger führt der bisher unbekannte Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Hans Magnus Enzensberger, den die Zeitschrift Sinn und Form in ihrer jüngsten Ausgabe veröffentlicht hat ("Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren". Briefwechsel 1955-1966. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger. Heft 5/2021, 11 Euro).
Adorno, der 1949 aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt am Main zurückgekehrt war, erzielte nicht nur mit seinen "Minima Moralia" (1951), den "Reflexionen aus dem beschädigten Leben", eine große öffentliche Wirkung über das universitäre Milieu hinaus, sondern vor allem in Vortragssälen und in Rundfunkstudios. Er hatte mehr Hörer als Leser, über 300 Rundfunkauftritte hat er in den 1950er- und 1960er-Jahren absolviert. Einer seiner häufigsten Auftraggeber war Alfred Andersch, Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk. Als Assistent und kurzzeitiger Kollege von Andersch schrieb Hans Magnus Enzensberger, damals gerade 26 Jahre alt, im Oktober 1955 seinen ersten Brief an Adorno.
Es ging um ein Radiogespräch mit Gottfried Benn, das dann aber nicht zustande kam. Ein paar Monate später waren die Aufnahmemodalitäten und der Titel von Adornos Vortrag "Kritik am Musikanten" auszuhandeln. Nicht durch diese eher formellen Schreiben eines Jungredakteurs wurde der Grundstein für den intellektuellen Austausch gelegt, sondern durch den Brief vom 24. August 1956, in dem Enzensberger von seiner Lektüre der "Dialektik der Aufklärung" berichtete. Selbstverständlich war die nicht. Das von Adorno und Horkheimer gemeinsam im Exil verfasste, 1947 in Amsterdam publizierte Buch war in Deutschland damals nicht erhältlich.
Kann man die Kulturindustrie noch kritisieren, wenn man sie bedient?
In der Diktion seiner Begeisterung sucht sich Enzensberger ihrem Gegenstand anzunähern: "Der Zorn, mit dem ich das unreflektierte Weiterwuchern der Geistes- und Religionsgeschichte an unseren Universitäten verfolge (so, als wäre nichts geschehen), kann sich nun endlich artikulieren und von der Schlacke der Hilflosigkeit reinigen; die Verärgerung über die Kulturkritik, die in Deutschland geübt wird, ist mit ihrem Gegenstand zugleich erledigt; der Gedanke, der sich progressiv wähnt, zur Einsicht in seine eigene Dialektik aber des Mutes ermangelt, ist Lügen gestraft." Eine Frage aber steht am Ende des Briefs: Unterliegt unweigerlich dem Verdikt gegen die "Kulturindustrie", wer ihr zuarbeitet, wie Enzensberger selbst - und wie Adorno?
Adornos Antwort erteilte dem jungen Redakteur Absolution und lieferte zugleich die Begründung für seine hochfrequente Mitarbeit im Rundfunk: "Es wäre stur und ein Stück jenes Kulturkonservativismus, der schließlich selber nur der Kulturindustrie zugute kommt, wenn man auf die Massenmedien verzichten und sich auf handgeschöpftem Bütten tummeln wollte."
Enzensbergers Debüt, der Gedichtband "verteidigung der wölfe" erschien 1957 im Verlag Adornos, bei Suhrkamp. 1960 wurde er dort Lektor und zog von Stuttgart nach Frankfurt, in die unmittelbare Nähe des bewunderten Philosophen. Als dann 1962 Enzensbergers Essayband "Einzelheiten" erschien, war Adorno voll des Lobes. Er sah darin "das weitaus Wichtigste in jenem ganzen Bereich, für den sich das Wort Kulturkritik eingebürgert hat", eine Fortsetzung der Kritik der Kulturindustrie aus der "Dialektik der Aufklärung", wenn auch unter dem Begriff "Bewusstseinsindustrie". Enzensberger revanchierte sich mit einem enthusiastischen Dankesbrief, der - in Kenntnis von Adornos soeben in den Akzenten erschienenen Notizen über Titel - am eigenen Buch ausdrücklich die Orientierung am Vorbild hervorhob: "rückblickend scheint es mir sogar fraglich, ob ich je auf das prinzip, das mit dem titel einzelheiten ausgesprochen ist, ohne ihr vorbild gekommen wäre."
Die wechselseitige Lektüre und Markierung intellektueller Schnittmengen über den Generationenunterschied hinweg war die Hintergrundvoraussetzung, als sich Enzensberger zehn Jahre nach dem ersten brieflichen Kontakt, im August 1965, als Herausgeber der seit Juni erscheinenden Zeitschrift Kursbuch mit der dringenden Bitte um Mitarbeit an Adorno wandte: "die zeitschrift oder das aperiodicum kann ohne sie nicht bestehen." Was nun folgt, ist die politisch hochinteressante Geschichte eines nicht geschriebenen Essays. Enzensberger agiert als überaus kluger Redakteur. Er mag nicht, "in der üblichen industriellen Manier", ein Thema vorschlagen, deutet aber durch das Lob von Adornos Vortrag "Sexualtabus und Recht heute" eine denkbare Option an. Adorno, dem Kursbuch prinzipiell gewogen, will sich nicht wiederholen, erwägt ein musikalisches Thema oder die Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus, den zu verabscheuen sich beide Briefpartner im Folgenden ausführlich versichern. Und dann hat Adorno im Brief vom 16. September 1965, plötzlich eine Idee, die ihm "ein wenig wie ein Kolumbusei vorkommt: eine Kritik des Godesberger Programms der SPD".
Über dem Projekt liegt der Schatten von Marx' "Kritik des Gothaer Programms"
Das Kolumbusei fiel nicht vom Himmel. Am 19. September 1965 fand die Bundestagswahl statt, bei der die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten, dem Berliner Bürgermeister Willy Brandt, auf eine absolute Mehrheit hoffte. Im Juni 1965 war nicht nur das erste Kursbuch erschienen, sondern auch der von Hans Werner Richter herausgegebene rororo-Band "Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative", der schon im Juli die dritte Auflage (51.-70. Tausend) erreichte. Darin schrieben unter anderen Peter Rühmkorf über Gustav Heinemann, Rudolf Augstein über Herbert Wehner und Rolf Hochhuth unter dem Titel "Klassenkampf" über den IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner. Willy Brandt, über den Günter Grass schrieb, war nicht der Protagonist, sondern Teil eines Schattenkabinetts. Auf Hochhuths Text war die Bemerkung des Bundeskanzlers Ludwig Erhard gemünzt: "Da hört bei mir der Dichter auf, und es fängt der ganz kleine Pinscher an, der in dümmster Weise kläfft."
Enzensberger war in dem rororo-Band nicht vertreten, und Adorno ließ keinen Zweifel daran, was ihn auf seine Idee einer Kritik des Godesberger Programms gebracht hatte: "Mir ist sie darüber gekommen, daß ich es nicht über mich brachte, Aufrufe für die SPD zu unterschreiben, wozu man mich sehr gedrängt hat; und dann entdeckte ich, daß mein Exemplar des Godesberger Programms so viel Annotationen enthält, daß sie eigentlich schon dem Entwurf einer solchen Sache entsprechen." Der Brief, in dem Enzensberger die Idee begeistert aufgriff, ist wenige Tage nach der Wahl geschrieben, bei der die SPD 39,3 Prozent erreichte, aber ihr Ziel verfehlte. Die Regierung aus CDU/CSU und FDP blieb trotz Verlusten der FDP im Amt.
Enzensberger, der zunächst den Text schon für das in naher Zukunft geplante Deutschland-Heft des Kursbuch zu erhalten hoffte und auf rasche Fertigstellung drang, traf nicht nur in der "Negativen Dialektik", die Adorno unbedingt zunächst vollenden wollte, auf eine Rivalin, sondern auch auf Skrupel, die aus dem Projekt selbst erwuchsen: "Über einem solchen Text liegt der Riesenschatten der ,Kritik des Gothaer Programms' von Marx, und ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten, wenn ich hinter diesem Vorbild nicht zurückbleiben möchte."
Briefwechsel von Krenek und Adorno:Atonale Freundschaft
Für die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert waren die Werke von Ernst Krenek und Theodor W. Adorno entscheidend. Einig waren sie sich dabei nicht immer, wie ihre hervorragend neu edierten Briefe zeigen.
Dass Adorno in der Tat eine marxistische Kritik der SPD vorschwebte, die ein klares Bekenntnis zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel einklagte, zeigt das in seiner Bibliothek erhaltene Handexemplar des Godesberger Programms. Zugleich stellte er dem geplanten Text im Brief an Enzensberger vom 23. September 1965 die Aufgabe einer Reflexion "auf die geschichtliche Situation, die in gewisser Weise jenes unselige Dokument erzwang". Enzensberger stellte schlau eine elastische Deadline in Aussicht und ließ Adorno wissen: "eine solche kritik, von ihnen formuliert, wird auf die intelligenz des landes eine wirkung haben, die wir heute gar nicht abschätzen können."
"Ich möchte nicht zum Unheil beitragen."
Zur Hoffnung auf eine spektakuläre Wirkung trug in den folgenden Monaten, in denen Enzensberger mit Engelszungen für das gemeinsame Projekt warb, die politische Entwicklung bei. Bereits im Frühjahr 1966 waren die Instabilität der neuerlichen Regierung Erhard absehbar, die im Oktober mit der Aufkündigung der Koalition durch die FDP zu ihrem vorzeitigen Ende führte. Damit wurde wiederum eine Regierungsbeteiligung der SPD möglich, aber lediglich als Juniorpartner in der ersten großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik. Eine Kritik des Godesberger Programms war die Kritik der Voraussetzungen für die Regierungsfähigkeit der SPD.
Der Exilant Adorno wiederum hatte ein feines Gespür für die Veränderungen in der Parteienlandschaft. Die im Jahr 1964 gegründete NPD befand sich im Aufwind, und so machte er im Brief vom 18. April 1966 neue Skrupel gegen das Projekt geltend: "Schließlich ist jener Plan ein Politicum, und dazu gehört, daß man auch die politische Wirkung mitreflektiert. Ich weiß aber nicht, ob gerade jetzt der beste Zeitpunkt zu einer Abrechnung mit dem SPD-Kurs ist." Dafür sei die Gefahr des Neonazismus in Deutschland viel zu akut und daher alles zu vermeiden, "was, sei's noch so indirekt, zu einer Stärkung des Rechtsradikalismus beitragen könnte. Es entsteht gerade bei mir eine Doktorarbeit über das verhängnisvolle Zusammenspiel der radikalen Parteien in der Spätzeit der Weimarer Republik und die überaus verhängnisvolle Rolle, welche dabei der Begriff Sozialfaschismus (also die unvermittelte Gleichsetzung der damaligen Sozialdemokratie mit dem heraufkommenden Faschismus) spielte." Vergeblich versuchte Enzensberger, diese Skrupel zu zerstreuen: "auf sukkurs von links, gegen die sozialdemokratie, kann heute keine rechte mehr zählen."
Ende August 1966, bevor er zu einer mehrwöchigen Russlandreise aufbrach, mahnte der hartnäckige Kursbuch-Redakteur noch einmal an, "daß die kritik des godesberger programms ein desideratum ersten ranges ist". Als er Anfang Oktober aus Russland nach Norwegen zurückkehrte und seinen Umzug nach Westberlin zu planen begann, stand der Bruch der CDU/CSU/FDP-Koalition kurz bevor. Anfang November zog die NPD zum ersten Mal in ein deutsches Landesparlament ein, in Hessen, wo Adorno wohnte.
Als Enzensberger am 18. November 1966 in seinem letzten Brief Adorno "nicht allein als Herausgeber eines Journals" darum bat, nun die Kritik des Godesberger Programms ganz oben auf seine Agenda zu setzen, hatte er einen seiner Auftritte vor einem Massenpublikum hinter sich. Ende Oktober hatte er beim Frankfurter Kongress "Notstand der Demokratie" gegen die geplanten Notstandsgesetze gesprochen. Der Weg der SPD in die Große Koalition war von Warnungen ihrer Wahlhelfer unter den linken Intellektuellen vom Sommer 1965 begleitet, in das Misstrauen gegen ihre Regierungsbeteiligung ging der Protest gegen die Notstandsgesetze ein. Die Bildung der Großen Koalition Anfang Dezember 1966 mit dem Kanzler Kurt Georg Kiesinger, einem ehemaligen Mitglied der NSDAP, und dem Exilanten Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister, war das Startsignal für den Aufschwung der Außerparlamentarischen Opposition. F.C. Delius, damals 23 Jahre alt, schrieb das Gedicht "Abschied von Willy" ("Brandt: Es ist aus. Wir machen nicht mehr mit ...").
Enzensberger kommentierte die Enttäuschung der SPD-Unterstützer kühl. Eine Woche nach Antritt der Großen Koalition berichtete Theodor W. Adorno brieflich Max Horkheimer von dem Druck, unter dem er durch Enzensberger und dessen Freunde stehe, die Kritik des Godesberger Programms zu liefern: "nur eine äußerst geschärfte kritische Selbstbesinnung könne der SPD helfen, daß sie nicht in dieser combine sich völlig verschleißt." Wieder steht dagegen angesichts der erstarkenden NDP, die Ende November auch in den bayerischen Landtag eingezogen war, die Sorge, durch eine scharfe Kritik an der SPD Wasser auf die Mühlen derjenigen zu leiten, "die an der schwer erschütterten Demokratie rütteln". Wieder ist die Erfahrung der Weimarer Republik der Hintergrund: "Ich möchte nicht zu dem Unheil beitragen, wie es seinerzeit durch die Parole vom Sozialfaschismus geschah." Horkheimer riet dringend davon ab, die geplante Kritik des Godesberger Programms zu publizieren. Adorno starb am 6. August 1969. Mit der Außerparlamentarischen Opposition und vielen seiner Studenten war er in den Jahren zuvor in Konflikt geraten. Der Wunsch des Redakteurs Enzensberger erfüllte sich nicht. Im Kursbuch erschien nie ein Text von Adorno.