Stuttgart 21:"Unterirdisch schlecht"

Lesezeit: 3 min

Besucher sehen sich am Tag der offenen Baustelle beim Bahnprojekt Stuttgart 21 um. (Foto: Christoph Schmidt/dpa)

Deutschlands umstrittenste Baustelle, S21, lässt SZ-Leser am eigentlichen Nutzwert des Bahnprojekts zweifeln.

"Überirdisch schön" vom 20./21. Mai:

Eine schlecht nutzbare "Kathedrale"

Welch ein Ruhmesgesang auf den Rohbau! Was Sie preisen, ist die Idee Frei Ottos, eine futuristische Raumkomposition, auf die schon der damalige Vorsitzende des Preisgerichts, Klaus Humpert hereingefallen ist. Eine fulminante Formidee, die man zweifellos an die Seite des Münchner Olympiadaches stellen kann. Indessen verlieren solche beeindruckenden Gedankengebäude in der späteren Nutzungsrealität oft an Strahlkraft.

Nicht nur Bahnsteige, die wegen ihres regelwidrigen Gefälles das Unfallrisiko für Rollstühle, Kinderwagen und Rollkoffer erhöhen, verändern das Idealbild, sondern auch Treppen und Aufzüge, die Sicht und Verkehrsfluss behindern. Statt 16 nur noch acht Gleise, 50 Prozent weniger, während Stuttgarts Einwohnerzahl wächst! Vom quellenden Gipskeuper ständig bedrohte Tunnel und bei Brand miserabler Rauchabzug: eine schlecht nutzbare "Kathedrale" formaler Gestaltung, aber kein brauchbarer Bahnhof; und schon gar kein funktionaler End- oder Ausgangspunkt mit Verweilqualität, Start oder Ziel einer Reise. Stattdessen hastiges Ein- und Aussteigen bei (kapazitätsbedingt) zu kurzen Wartezeiten; und beim Umsteigen zu Regionalanschlüssen mühseliges Kofferschleppen über Treppen. Beim mit Köpfchen gebauten Kopfbahnhof ging's bequemer.

All diese funktionalen Mängel sind Ihnen natürlich bekannt, aber Sie verpacken sie mit höchster verbaler Eleganz im glitzernden Geschenkpapier der äußerlichen Form. Ein geradezu unheimliches Plädoyer für Georges Batailles "unökonomische Verausgabung", denn sie ist zudem ja auch noch dysfunktional.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Brandgefährlich

Rein architektonisch-gestalterisch mag der künftige Stuttgarter Haltepunkt schön sein. Das darf er auch. Für einen Bahnhof, der das Attribut "Hauptbahnhof" verdient, sind jedoch ganz andere Eigenschaften vorrangig: Leistungsfähigkeit, Sicherheit, Zuverlässigkeit, Störungsresistenz und Zukunftstauglichkeit bei der politisch querbeet gewollten Verdoppelung der Bahnnachfrage!

Das alles garantiert der gute alte Kopfbahnhof in Stuttgart spielend! Und das alles verfehlt das künftige "Hauptbahnhöfchen" mangels ausreichender Gleiskapazität krachend. Der neue Stuttgarter Bahnhof ist eine bahnbetriebliche Katastrophe - und dazuhin zusammen mit mehr als 110 Kilometer Tunnelröhren eine brandgefährliche!

Dipl.-Ing. Frank Distel, Bodman-Ludwigshafen

Immobilien- statt Bahnprojekt

Der Artikel beschreibt wunderbar, worum es bei Stuttgart 21 geht. Es ist ein Immobilien- und kein Bahnprojekt. Das sagte der damalige Verkehrsminister, Wolfgang Tiefensee. Ja, wir hatten schon fähige Verkehrsminister. Die früheren "Kathedralen der Mobilität" wurden bahnorientiert geplant. Der notwendige Umfang der Schieneninfrastruktur hatte erste Priorität. Dann kam die Hülle. Bei S21 war es umgekehrt. Der finanzierbare unterirdische Raum wurde definiert und der Bahnhof musste darin untergebracht werden. Auch das "sehr sanfte Gefälle" - was es definitiv bei Rekord-Gleisneigung von 15 Promille nicht ist - wurde aus Kostengründen akzeptiert. Damit die Koffer nicht ins Gleisbett rollen, wird es auch noch eine Neigung nach innen geben. Es gibt ein sehr schönes Video der Bahn darüber. Man könnte es auf jedem Kabarettfestival zeigen.

Durch diesen vorgegebenen Raum sind die Bahnsteige sehr eng, mit den üblichen Flaschenhälsen bei Treppenaufgängen und Aufzügen. Bei der nicht seltenen Durchsage "Heute fährt der Zug in umgekehrter Reihenfolge ein", kann man sich nur wünschen, am höchsten Punkt zu stehen, dann rollt der Koffer von alleine in die richtige Richtung.

Bei überfüllten Zügen müssen Passagiere aussteigen, denn bei den Steigungen in den Tunnels (die übrigens auch Kamine sind) ist die Brandgefahr zu groß. Man kann sich vorstellen, dass im Wechsel die geraden und ungeraden Fahrkarten aussteigen müssen. Bei einem wichtigen Termin empfiehlt es sich, zwei Karten zu kaufen, gibt ja auch Bonuspunkte.

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass alle Befürworter abgetaucht sind (außer dem Architekten, er ist ja nur für die Hülle zuständig)? Bei der Fertigstellung des Rohbaus könnte die SZ doch alle zu Wort kommen lassen. Viel Spaß beim Suchen. Bei dem zehnjährigen Jubiläum von S21 wagte sich nur Herr Schmiedel aus der Deckung. Er hat wohl beim Losen verloren. Ich bin der festen Überzeugung: Dieser Bahnhof geht aus Brandschutzgründen nie ans Netz. Fazit: Stuttgart kann mehr als Berlin.

Rainer Markus Wimmer, Karlsruhe

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung , gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de . Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: