Leserbriefe:Lässliche Jugendsünde oder grober Sündenfall?

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Massiv in der Kritik wegen eines rechtsextremen Flugblattes aus Schülertagen: Hubert Aiwanger (Freie Wähler). (Foto: Peter Kneffel/dpa)

SZ-Leserinnen und -Leser streiten über die Frage, ob der Freie-Wähler-Vorsitzende Hubert Aiwanger nach der Flugblatt-Affäre noch bayerischer Minister bleiben kann.

"Das Auschwitz-Pamphlet" vom 26./27. August, "Aiwanger setzt Söder unter Zugzwang" und "Söders Dilemma" vom 28. August, "Lügen, Schweigen, Abtauchen", "Söder bestellt Aiwanger zu Sondersitzung ein" und "Abstoßend, aber auch strafbar?" vom 29. August, ",Die letzten Jahrzehnte kein Antisemit' " vom 31. August, "Aiwanger entschuldigt sich - und dementiert" vom 1. September:

Ein Zeitpunkt, der kein Zufall sein kann

Es hat schon ein Geschmäckle, wenn wenige Wochen vor der bayerischen Wahl ein Pamphlet, mit welchem Aiwanger in Verbindung stehen soll, auftaucht und sogleich lautstarke Rücktrittsforderungen die Debatte bestimmen. Nicht, dass der Inhalt des Schreibens nicht abstoßend wäre, dies steht außer Frage. Was allerdings auch eine wichtige Frage ist: Wer möchte heutzutage noch Politiker werden, wenn er jederzeit damit rechnen muss, von jeglicher Jugendsünde irgendwann einmal eingeholt zu werden? Die Redlichsten werden es sicher nicht sein, denn wer von jeglicher Sünde frei sei, der werfe bekanntlich den ersten Stein.

Manuel Baghorn, Hamburg

Ein rechter Menschenfänger

Wenn sich Aiwanger als Menschenfreund sieht und sein Verhalten mit Jugendvergehen verklärt, ist das seine Sache, aber für mich nicht glaubwürdig. Von einem Minister und Vizeministerpräsidenten kann man erwarten, dass er zu seinem "Vorleben" steht, keine Nebelkerzen wirft, die Konsequenzen zieht und damit auch nicht seine Partei belastet. Für mich ist er ein rechter Menschenfänger, der mit seinen populistischen Reden, Ansichten und Handlungen schon seit seiner Wahl zum FW-Vorsitzenden den Menschen den "Macher" suggeriert, den sich manche in schwierigen Zeiten wohl wünschen. Seine Parteifreunde hofften und hoffen weiterhin davon zu profitieren, denn die Partei ist ganz auf ihn allein zugeschnitten und er auf seine ergebenen "Zuträger" angewiesen. Also ein Mitnahme-Effekt in zweierlei Hinsicht, auch für Söder, der sich an Aiwanger bindet, mit seinem zögerlichen Verhalten Zeit gewinnen und damit auf Stimmen AfD-naher Wähler für die Freien Wähler wohl nicht verzichten mag. Schade, dass viele der regionalen Freie-Wähler-Gruppen dem Lockruf Aiwangers und seiner Partei erlegen sind und nicht mehr wie vormals sich ausschließlich für die Belange der Bürger ihres Ortes einsetzen. Die Freien Wähler Olching haben sich von den Freien Wählern getrennt, als diese eine Partei wurden.

Gabriele Frank, Olching

Jämmerlich

Zur Person Aiwanger, samt seinem Vorgesetzten, fällt mir nur eine Wertung ein: jämmerlich. Die Sache aber ist beängstigend. Ich danke der SZ, die einmal mehr ihrem Verfassungsauftrag nachkommt. Ob es nützt, bleibt zweifelhaft, schließlich haben die Deutschen, die Bayern voran, schon einmal den Jämmerlichen zur totalen Macht verholfen, die Folgen sind manchen - zu wenigen - bekannt. Denn das ist es, was Aiwanger in Erding wirklich meinte: Er will sich die Macht nicht von denen da oben zurückholen. Er will sie uns allen, dem Souverän, wegnehmen.

Michael Seitz, München

Verbrannt fürs Amt

Ein Repräsentant, eine Repräsentantin der israelitischen Kultusgemeinde bekommt eine hohe Auszeichnung durch den Freistaat. Der Ministerpräsident erkrankt plötzlich. Nun muss der Stellvertreter ran. Diese Option will Markus Söder sich und Bayern antun? Ernsthaft?

Thomas Füting, München

Jugendliche Provokation

Wie kann eine seriöse, von mir bis dahin geschätzte Zeitung sich auf ein so absurdes Gefasel einlassen? Liest man das zitierte Aiwanger-Pamphlet, so kann man nur an einen "Dumme-Jungen-Streich" eines Pubertierenden denken: Ganz und gar nicht geschmackvoll, aber so sind diese jugendlichen Provokationen nun mal. Es ist ja in unserer "aufgeklärten Gesellschaft" gar nicht so einfach, die Erwachsenen zu schockieren. Ich bin seit Jahrzehnten Psychotherapeutin und weiß, dass provozierende Verhaltensweisen zu einer gesunden Reifung jedes Heranwachsenden dazugehören. In diesem Sinn hat der jugendliche Hubert Aiwanger lediglich das getan, was in den Bereich des Erwartbaren fällt. Und in diesem Sinn dürfte er sich auch zu einem psychisch gesunden Erwachsenen entwickelt haben. Mit seiner heutigen Politik muss man sich auseinandersetzen, nicht mit seinen Jugendsünden. Ich möchte im Übrigen keineswegs für ihn werben. Ich bin seit Jahrzehnten ein Mitglied der SPD und habe lange in Bayern gelebt.

Dr. Marga Kreckel, Halle

Widersprüche

Von Interesse wäre, wann das Flugblatt geschrieben wurde beziehungsweise in die Schulöffentlichkeit gelangt ist. Es ist davon auszugehen, dass es sich um den Geschichtswettbewerb 1988/89 der Körber-Stiftung zum Thema "Unser Ort - Heimat für Fremde" handelt. Auch der Terminschluss des Flugblattes "1.1.88" legt dies nahe. Also kann man davon ausgehen, dass das Flugblatt Ende des Jahres 1987 verfasst wurde. Wenn es wirklich der Bruder von Hubert Aiwanger verfasst hätte, dann hätte der "Zorn" auf das Nichterreichen des Klassenziels lange angehalten und wäre keine Spontanreaktion gewesen.

Wenn Hubert Aiwanger nicht der Verfasser des Pamphlets gewesen ist, warum musste er zweimal eine Parteifreundin zu dem jetzigen Informanten schicken, um auszuloten, ob die Causa "Naziflugblatt" für ihn gefährlich werden könnte? Warum hat er Tage gebraucht, um den Bruder zu outen? Er hätte sich doch gleich als Helden für seine Klientel geben können, weil er noch nie jemanden "verpfiffen" habe. Auch der letzte Satz des Flugblatts: "Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme", deutet womöglich eine Mitverfasserschaft an.

Franz Kohout, München

Für Kampagne instrumentalisiert

Zunächst darf ich Sie zu Ihrer Recherche auf höchstem moralischen und ethischen Niveau beglückwünschen. Mir erscheint jedoch wenig plausibel, warum Sie mit Ihrer Recherche erst im Alter von 17 Jahren begonnen haben. Es gäbe doch noch weitere, sehr ergiebige Zeitfenster wie: Kindergarten, Grundschule, Unterstufe Gymnasium, Mittelstufe Gymnasium. Darüber hinaus finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie das Verhalten eines 17-Jährigen, das seit Jahren bekannt ist, für Ihre Kampagne in Zeiten des Wahlkampfes instrumentalisieren. Das entspricht doch wenig dem hohen moralischen Anspruch, dem sich die SZ doch angeblich so verpflichtet fühlt.

Dr. Antje Rheinbay, Schäftlarn

Drohung nie zurückgenommen

In der Diskussion über das Aiwanger-Flugblatt kam auch die Frage auf, ob nun die jüdischen Opfer oder alle Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt und beleidigt wurden. Dabei gerät die eigentliche Zielgruppe völlig aus dem Blickfeld: die Mitschüler des Jahres 1987, und zwar diejenigen, die als "Vaterlandsverräter" beschimpft werden. Aus der Überschrift und dem Schlusssatz wird es erkennbar. Gemeint sind offenbar die Teilnehmer am "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte" um den Preis des Bundespräsidenten. Diesen Mitschülern wird bedrohlich vor Augen geführt, wie man mit angeblichen "Vaterlandsverrätern" umzuspringen gedenkt. Genauso wie anno dazumal. Wenn man mal wieder am Drücker ist. Das ist die Drohung aus dem Jahr 1987. Wahrscheinlich wurde die Aktion von mehreren Beteiligten getragen. Zumindest endet das Flugblatt mit einem Wir-Satz. Hubert Aiwanger war in irgendeiner Weise beteiligt, soviel steht fest. Es hat sich niemand entschuldigt, auch nicht bei den bedrohten Mitschülern. Nirgends konnte man lesen, dass die Drohung zurückgenommen worden wäre. Der Vorfall ist brandaktuell, auch noch im Jahr 2023.

Peter Hetzel, Schrobenhausen

Ein Frage von Ethik und Moral

Es ist nicht zu ertragen, wie Herr Söder und die CSU mit der Causa Aiwanger umgehen. Herr Söder kann ja die Koalition mit den Freien Wählern fortsetzen, aber doch nicht mit jemandem, der sich in der Nähe solcher Aussagen und Einstellungen (unter anderem das Flugblatt, die Aussagen auf der Demo in Erding) bewegt. Mit Strafbarkeit muss das nicht gleich zu tun haben, aber mit Ethik und Moral - dazu braucht es keine 25 Fragen. Wer wird Farbe bekennen, Rückgrat zeigen?

Dr. med. Bernd Dieter Fenne, Hildesheim

Und was ist mit Joschka Fischer?

Wer heute meint, dass Hubert Aiwanger aufgrund dieses Flugblatts mindestens von seinem Ministeramt zurücktreten müsse, sollte auch nicht vergessen, dass wir bis in die 1980er-Jahre Minister und auch Bundeskanzler hatten, die nicht nur Flugblätter im Ranzen hatten, sondern auch als Erwachsene noch selbst ihren Teil dazu beigetragen hatten, dass die Nazi-Maschinerie funktionierte. Und was den strafwürdigen Charakter des mutmaßlichen Handelns des jugendlichen Hubert Aiwanger betrifft, so sei auch daran erinnert, dass es vor nicht allzu langer Zeit auch einen Außenminister und Vizekanzler gegeben hat, der als nicht mehr so ganz unter das Jugendstrafrecht fallender Steinewerfer aufgefallen war, ohne dass dies seiner Karriere geschadet hätte. Geht also bitte wieder zur Tagesordnung über.

Marcus M. Muhr, Manching

Sauberer Weg für die CSU

Vor dem Hintergrund dieses grässlichen Flugblatts darf man die Rede von Erding getrost als rechtes Gesinnungsbekenntnis des Herrn Aiwanger werten. Vermutlich werden die vielen Nazis in der AfD nun große Erwartungen in ihn setzen angesichts der Landtagswahl in Bayern. Wie soll jetzt Herr Söder mit seiner CSU damit umgehen? Er sollte sich von Aiwanger und dessen Schreihals-Anhängern mutig trennen und als Koalitionspartner eine andere demokratische Partei akzeptieren, wie es seine Kollegen weiter nördlich in der Republik vormachen. Das ist zwar anstrengender, kann aber wie ein politisches ISO-Zertifikat das durch viele Skandale arg ramponierte Image seiner Partei wieder aufbessern.

Rainer Harms, Dietramszell

Beschämend und verstörend

Es ist zutiefst beschämend und verstörend, was 78 Jahre nach Kriegsende, nach der Befreiung von Auschwitz, in einer Landesregierung im Land der Täter möglich ist.

Angelika Oden, Schwielowsee

Verjährt

Es ist ein wirres Produkt eines unreifen Siebzehnjährigen. Wer immer es geschrieben hat, er muss es sich heute, 35 Jahre später, nicht mehr anrechnen lassen. Es ist verjährt.

Hans Karl Abele, München

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