Grundsatzurteil in den USA:Debatte um Abtreibung, Ideologie und Gefahren

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Protest vor der US-Botschaft in Berlin gegen das Abtreibungsverbot in den USA. (Foto: IMAGO/Mike Schmidt/IMAGO/Mike Schmidt)

Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ist in den Vereinigten Staaten gefallen. Viele SZ-Leser machen sich deshalb Sorgen, andere sind froh darüber.

"Es geht alle an" vom 6. Juli, "Hinter der Brücke" vom 27. Juni, "Interessiert euch" vom 29. Juni, "In den USA fällt das landesweite Recht auf Abtreibung" vom 24. Juni und weitere Artikel:

Mehrheit fehlt

Verfassungsrichter als sogenannte Dritte Gewalt haben darauf zu achten, dass die Politik die Verfassung einhält. Was sie nicht dürfen, ist, eigene politische Entscheidungen zu treffen. An diesen ehernen Verfassungsgrundsatz hat sich der Supreme Court gehalten. Die Politik in den USA, Demokraten wie Republikaner, Senat wie Repräsentantenhaus, hatten 50 Jahre seit dem Urteil "Roe v. Wade" Zeit, ein Recht auf Abtreibung, welches weder in der amerikanischen Verfassung ausdrücklich oder schlüssig enthalten ist, in Form eines Bundesgesetzes verbindlich für alle Bundesstaaten zu verankern. Das haben sie nicht hinbekommen. Warum? Weil sie keine Mehrheiten dafür organisieren konnten.

Daraus folgt unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten in einer parlamentarischen Demokratie: Es gibt seit 50 Jahren keine Mehrheit von gewählten Abgeordneten oder Senatoren, welche es geschafft hätte, im Repräsentantenhaus oder Senat ein Recht auf Abtreibung als Bundesgesetz zu beschließen. Heißt: Der Gesetzgeber als oberstes Verfassungsorgan will keinen unbeschränkten Anspruch auf Abtreibung.

Der Supreme Court hat nichts anderes getan, als diesem demokratisch legitimierten Zustand Rechnung zu tragen und eben nicht das Gegenteil dessen festzuschreiben, was weder in der Verfassung steht, noch von den Parlamentariern gewollt wird, nämlich ein Recht, gar einen Anspruch auf Abtreibung. Der Supreme Court 1973 hatte sich in seiner Entscheidung darüber hinweggesetzt. Das wurde jetzt korrigiert.

Jetzt haben es gewählte, legitimierte Politiker nicht nur wie bisher allein in Washington, sondern zusätzlich noch in jedem einzelnen der 51 Bundesstaaten der USA in der Hand, ein Abtreibungsrecht zu beschließen, großzügig oder restriktiv, eben nach Mehrheitswillen.

Der weitere argumentative Fehler der im Blick verengten, aber umso mehr empörten "Mein Bauch gehört mir"-Community liegt darin, dass dieser das rechtsstaatlich legitimierte Ergebnis nicht schmeckt und deren Vertreter es außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung einzig und allein einer Frau überlassen wollen, ob diese einen menschlichen Fötus töten darf oder nicht.

Pikant ist dabei: In ihrer Verblendung, vielleicht sogar im Hass gegen demokratische Wahlentscheidungen, stimmen Donald Trump und radikale Abtreibungsbefürworter völlig überein: Sie erkennen Wahlentscheidungen nicht an. Der eine hat nicht genügend Stimmen zur Wiederwahl bekommen und faselt von Wahlbetrug, die anderen wüten gegen Entscheidungen ihrer mit Mehrheit gewählten Volksvertreter, dem Abtreibungsrecht einen bestimmten, aber ihnen verhassten rechtlichen Rahmen zu geben. Beiden passen Mehrheitsentscheidungen nicht ins ideologische Weltbild.

Wolfram Salzer, Neustadt bei Coburg

Folgen der Trump-Regierung

Die Freiheitsstatue verliert ihre Freiheit. Alles ist möglich - so hätte wohl nicht nur der Slogan von Toyota heißen können, sondern auch derjenige der USA. Für eine Zeit lang waren die Staaten das Symbol für Freiheit. In meinem Auslandssemester in Philadelphia 2021 war davon durch die Trump-Kandidatur nicht mehr viel übrig. Was auch nach Trump blieb: eine durchgeschüttelte Demokratie und ein zerrissenes Volk.

Klar, er war nicht der alleinige Auslöser, aber durch ihn wurde vieles sichtbar. Donald Trump wirkt auch jetzt noch nach, das wird besonders im neuesten Urteil zur Abtreibung spürbar. Er durfte in seiner Amtszeit drei neue Supreme-Court-Richter/Richterinnen vorschlagen. Bei neun Richtern insgesamt sind drei neue erzkonservative Stimmen sehr viel. Durch dieses neue Stimmgewicht konnte am 24. Juni dieses Urteil gesprochen werden: Abtreibung kann von den Bundesstaaten in den USA verboten werden. Was mittlerweile noch vom Land der Freiheit übrig ist, das kann wohl jeder für sich selbst entscheiden. Miss Liberty, die Freiheitsstatue, verliert auf jeden Fall ihre Freiheit, abzutreiben. Am liebsten würde sie womöglich gerne nach Deutschland ziehen. Dort hat man sich am selben Tag entschieden, das Werbeverbot für Abtreibungen zu kippen.

Lars Englert, Göttingen

Das Verbot und seine Auswirkungen

In Mexiko ist eines der beiden Medikamente, das für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verwendet wird, rezeptfrei erhältlich, berichtet Jürgen Schmieder: Misoprostol, das wehenartige Krämpfe auslöst. Das Präparat Mifepriston - ein Hormonblocker, der die Schwangerschaft beendet - ist auch in Mexiko verschreibungspflichtig. Rezepte sind in lokalen Arztpraxen erhältlich. Es wird von einigen Apotheken auch ohne Rezept verkauft, wie der SZ-Bericht darlegt. Ich möchte darauf eingehen, auf welche Weise dieser vermeintlich kleine Unterschied in der Erhältlichkeit von Misoprostol und Mifepriston dazu beiträgt, das mit Schwangerschaftsabbrüchen verbundene Risiko zu erhöhen.

Denn Misoprostol kann eine Schwangerschaft beenden und wird vielfach so verwendet, wenn Mifepriston nicht erhältlich ist. Die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Abbruchs mit Misoprostol ist freilich geringer. Die Abtreibung dauert länger und ist mit starken Schmerzen verbunden. Es kann verstärkt zu gastroenterologischen Nebeneffekten kommen. Darüber hinaus steigt das gesundheitlich Risiko durch die falsche Einnahme des Medikaments (zum Beispiel eine falsche Dosierung).

Die freie Verfügbarkeit von Misoprostol in Mexiko ist daher nur auf den ersten Blick eine "Lösung" des Problems. Auf den zweiten Blick zeigt sie, wie die Entscheidung des Supreme Courts dazu beiträgt, durch das Verbot legaler Schwangerschaftsabbrüche die Gesundheit und das Leben von Frauen zu gefährden.

Dr. Susanne Schmidt, Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte

Alles möglich, nur das nicht

Traurig: Im Land, in dem alles möglich ist, haben Frauen es schwer, Kinder zu gebären, und vor allem sie zu ernähren, sie zu erziehen. In diesem Land haben es die schwarzen Frauen besonders schwer; die Teilung zwischen schwarz und weiß scheint trotz Obamas Präsidentschaft nicht wirklich beseitigt zu sein. Nun kommt die Verschärfung des Abtreibungsrechts hinzu.

Bei all diesen Problemen, die gerade von Frauen getragen werden müssen, bleibt bei mir eine Frage unbeantwortet: Wo ist eigentlich der Schutz des Ungeborenen? Wieso müssen in Amerika Frauen nach sexueller Liebe Kindern das Leben verweigern? Gibt es keine Möglichkeiten der Vorsorge und Verhütung? Oder sieht man in der amerikanischen Gesellschaft Abtreibung ganz anders?

Pfarrer Wolfgang Zopora, Bad Alexandersbad

Schuld ist Papst Pius IX.

"Gott hat entschieden", weiß Donald Trump über das Abtreibungsurteil des US-Supreme-Court, das jetzt in einer Reihe von US-Staaten zu einer Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen führen wird. Bemerkenswerterweise schweigt sich Gott selbst in der Bibel völlig über den Zeitpunkt aus, ab dem in der Schwangerschaft die Beseelung stattfinden soll und wann damit - nach christlichem Verständnis - ein Mensch entsteht. Deswegen orientierten sich die Theologen - anders als heute - viele Jahrhunderte lang an Aristoteles, der wusste (woher eigentlich?), dass eine Beseelung beim männlichen Embryo am 40. Tag der Schwangerschaft stattfindet, beim weiblichen Embryo erst am 90. Tag.

So entschied zum Beispiel Papst Innozenz III. im 13. Jahrhundert den Fall eines Kartäusermönchs, dessen Geliebte auf Veranlassung des Mönchs abgetrieben hatte: Dieser sei keiner Tötung schuldig, wenn der Fötus noch nicht beseelt war. Und auch die für Jahrhunderte maßgebliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. stellte nur die Abtreibung einer beseelten "Leibesfrucht" unter Strafe, das hieß damals: ab dem dritten Schwangerschaftsmonat. Erst im 19. Jahrhundert hat die katholische Kirche ihre Lehrmeinung zu Abtreibungen radikalisiert. Am 12. Oktober 1869 dekretierte Papst Pius IX. in einer Bulle: Der Beginn eines Menschen erfolge im Augenblick der Empfängnis. Nur dies schien ihm übereinzustimmen mit dem kurz zuvor verkündeten Mariendogma von der unbefleckten Empfängnis. Solch abstruse Vorstellungen sind heute noch die ideologische Basis unseres Abtreibungsrechts. Aber rechten Politikern bei uns oder anderswo dient es allemal zu einem Kulturkampf, mit dem sie glauben, ihre Machtpositionen auf Kosten von Frauen ausbauen und zementieren zu können.

Dr. Alfons Hack, Grafing

Inhuman, nicht liberal

Katharina Riehl hat in ihrem Plädoyer für absolute Freiheit und Selbstbestimmung die Hauptbetroffenen von Abtreibung vergessen: die ungeborenen Kinder. Nicht alle, die in dieser Debatte das elementare Grundrecht auf Leben verteidigen, können mit den im Kommentar vorschnell und pauschal bemühten Attributen "erzreaktionär", "rechtskonservativ", "rechtspopulistisch" und "reaktionär" diffamiert werden. Eine Gesellschaft, die die Autonomie auf Kosten der Freiheit anderer verabsolutiert, ist nicht liberal, sondern schlicht inhuman. Ja, der Schutz des ungeborenen Lebens geht alle an, die sich zur Menschenwürde und den daraus abgeleiteten Grund- und Menschenrechten bekennen.

Thomas Gottfried, Freising

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