Kriminalatistik:Was die Zahlen aussagen - und was nicht

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Ein dickes Zahlenwerk: Innenministerin Nancy Faeser präsentiert mit Holger Münch (links), dem Chef des Bundeskriminalamtes, und ihrem brandenburgischen Amtskollegen Michael Stübgen die Kriminalstatistik. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Die Polizei verzeichnet mehr Straftaten als im Vorjahr, auch von Migrantinnen und Migranten. Aber wie ist die Statistik zu interpretieren? Gibt es mehr Gewalt? Macht Zuwanderung das Land wirklich unsicherer? Die Leserinnen und Leser der SZ rücken einige Werte gerade.

"Mehr Straftaten und mehr Gewalt" und Kommentar "Mehr Grips, mehr Geld" vom 10. April:

Prozentzahlen erklären

Ich finde es erschreckend, wie in der Süddeutschen Zeitung auf Seite eins Stimmung gegen Ausländer gemacht wird und richtige, jedoch irreführende Zahlen publiziert werden: "Der Anstieg bei deutschen Tatverdächtigen aller Altersgruppen liegt laut Statistik bei einem Prozent, bei nicht deutschen Tatverdächtigen bei 17,8 Prozent, also wesentlich höher." Das klingt dramatisch!

Der Großteil der Bevölkerung wird daraus folgern, dass die Politik dagegen doch etwas unternehmen muss, also die Migration eindämmen oder Ausländer abschieben. Die AfD lässt grüßen. Es trägt nicht unbedingt zur Aufklärung bei, dass der Artikel darauf hinweist, dass sich ein anderes Bild ergebe, wenn man die Zahlen ins Verhältnis zum Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung setzt. Dem Leser werden die beiden Prozentzahlen aus dem ersten zitierten Satz in Erinnerung bleiben.

Ich möchte den Sachverhalt an einem ganz einfachen, fiktiven Beispiel erklären: In einer Kleinstadt gibt es im Jahr 2022 zehn tatverdächtige Ausländer. Bei einem Anstieg von 20 Prozent wohnen im Jahr 2023 in der Kleinstadt zwölf tatverdächtige Ausländer. Der Anstieg von 20 Prozent hat allerdings keine Aussagekraft, wenn ich nicht weiß, wie sich die Gesamtzahl der Ausländer in der Kleinstadt verändert hat.

Zurück zum Beispiel: Im Jahr 2022 wohnen 1000 Ausländer in der Stadt, im Jahr 2023 sind es durch Zuwanderung 1200. Berechnet man jetzt den Anteil der tatverdächtigen Ausländer unter allen Ausländern in der Kleinstadt, so wird man feststellen, dass dieser sowohl im Jahr 2022 als auch im Jahr 2023 bei einem Prozent liegt. Was mit einem Anstieg von 20 Prozent dramatisch klingt, war also nur dem Umstand geschuldet, dass es bei mehr Menschen natürlich auch mehr Tatverdächtige gibt.

Im Kommentar "Mehr Grips, mehr Geld" wird das dann auch besser dargestellt: "Misst man den Anstieg nicht deutscher Tatverdächtiger an ihrem Bevölkerungsanteil, der stetig wächst, lag die Zunahme der ausländischen Tatverdächtigen 2023 auf dem Feld der Gewaltdelikte bei etwas über einem Prozent - also sogar unter dem Niveau von 2,2 Prozent bei deutschen Beschuldigten." Das wäre doch eine schöne Meldung für Seite eins gewesen! Ich würde es begrüßen, wenn die Süddeutsche Zeitung in Zukunft vorsichtiger ist bei aus dem Zusammenhang gerissenen Prozentzahlen und mehr zur Aufklärung der Bevölkerung beiträgt, wie Prozentzahlen zu verstehen sind.

Ulrike Pauli, München

Was sind die Ursachen?

Mit der aktuell veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistik zur Gewaltkriminalität in Deutschland kommt viel Hitze und Hetze ins politische Mahlwerk. Herr Dobrindt ergreift sofort die Gelegenheit, der AfD die Arbeit abzunehmen, indem er den Grünen vorwirft, die Probleme einer hohen Migrationsdynamik schönzureden, zu leugnen und zu vertuschen. Nur weil die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic eine Grundlage erarbeiten möchte, um die Prävention zum Eindämmen der Gewalt zu verbessern, ohne den gestiegenen Ausländeranteil in den Vordergrund zu stellen. Natürlich kann man sich jetzt vorstellen, wie sich die Ausländer-Experten der AfD die Hände reiben, weil die Fallzahlen zeigen, dass der Anteil ausländischer Tatverdächtiger um 2,5 Prozentpunkte gestiegen ist. Und sicher sehen sie darin ein weiteres Argument für ihre kruden Deportationsfantasien.

Einzig Innenministerin Nancy Faeser ist so klug, darauf hinzuweisen, dass der Rechtsstaat einerseits härter durchgreifen, andererseits aber auch bei den sozialen Ursachen der Gewalt ansetzen muss. Denn schlechte Lebensbedingungen erzeugen Frustration und dann Wut. Also sprechen wir doch lieber mal wieder über die Schere zwischen Arm und Reich. Denn die betrifft die deutschen Jugendlichen genauso wie junge Migrantinnen und Migranten, als Anstoß, in die Kriminalität abzudriften.

Gregor Ortmeyer, Mönchengladbach

Deutschland überfordert?

Nicht weiter verwunderlich, dass die Underdogs krimineller sind als wir wohlsituierten Durchschnittsdeutschen. Und ja, Constanze von Bullion hat in ihrem Kommentar recht, man könnte noch einiges mehr unternehmen, um die Lebenssituation und Betreuung dieser Menschen so zu verbessern, dass sie möglichst nicht straffällig werden. Aber wir sollten auch diejenigen nicht verhöhnen, die vor allem dafür sorgen wollen, dass die jährliche Zuwanderung innerhalb gewisser tolerabler Grenzen bleibt. Man kann immer sagen, der objektive Punkt, ab dem unsere Gesellschaft organisatorisch, finanziell oder psychologisch überfordert ist, sei noch lange nicht erreicht. Aber es wäre unverantwortlich, so zu tun, als gäbe es diesen Punkt überhaupt nicht.

Axel Lehmann, München

In Zusammenleben investieren

Danke für den besonderen Hinweis in Ihrer Berichterstattung: Nach den vorliegenden Daten sind die meisten Opfer der Straftaten von Nichtdeutschen wiederum Ausländer. Das macht Lösungen aktuell schwieriger denn je: Die Nähe von Migranten aus Ländern oder Gruppen, die einander teils brüsk ablehnenden, triggert sehr effizient Diskriminierungs-, Konflikt- und Gewaltanlässe. Darum werden auch wir deutlich mehr in ein aufmerksames und friedliches Zusammenleben investieren müssen.

Dr. Karl Ulrich Voss, Burscheid

Anzeigen oder Urteile?

Seitdem es diese Statistik gibt, wird sie missbraucht: von Politikern aus populistischen Gründen und nicht vernünftig nachdenkenden Journalisten. Die Kriminalitätsstatistik ist ein Tätigkeitsnachweis der Polizei. Sie führt auf, welche Delikte zur Anzeige gebracht wurden - mehr nicht.

Wer Anzeigen mit Taten gleichsetzt, bringt das Recht aller Angezeigten um die Rechtsnorm der Unschuldsvermutung. Erst wer verurteilt ist, gilt als Straftäter. Alle anderen Kommentare, ob von Landes- und Bundesministern oder leider auch Journalisten dieser Zeitung, sind, was sie sind: oberflächlich und interessengeleitet.

Frank Düchting, Hamburg

Genauer gesagt

In Ihren Berichten zur polizeilichen Kriminalstatistik werden die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik mehrfach als Daten zur Kriminalitätsentwicklung beschrieben. So beginnt der Artikel "Auf die Schnelle gesagt" mit den Sätzen: "Wie sich in Deutschland die Kriminalität verändert? Deutschlands Fahnder führen darüber Monat für Monat akribisch Buch." Genau das tun die "Fahnder" nicht. Ermittelt werden in dieser Statistik Tatverdachtsfälle und keineswegs Straftaten. Ob ein Handeln eine Straftat ist oder nicht, ob ein Sachverhalt eine Straftat anzeigt oder nicht - darüber entscheiden in Deutschland Strafgerichte.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist nicht mehr als ein Tätigkeitsbericht der Polizei, der über die Kriminalitätsentwicklung keine Auskunft gibt.

Prof. Dr. Helge Peters, Oldenburg

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