Orden für Angela Merkel:Zeugnis für 16 Jahre Kanzleramt

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel das Großkreuz des Verdienstordens in besonderer Ausführung. (Foto: Emmanuele Contini/Imago)

Anlässlich der Verleihung des Großkreuzes des Verdienstordens für die Bundeskanzlerin a.D. ziehen SZ-Leserinnen und -Leser ihre Resümees.

"Es ist ein Kreuz" vom 29. April und "Blieb sie zu lang?" vom 17. April:

Verdiente Krisenmanagerin

Anlässlich der Ordensverleihung an Angela Merkel werden ihre Verdienste in 16 Jahren Kanzlerschaft infrage gestellt. Mit der Erkenntnis von heute lassen sich Fehler von gestern wohlfeil beklagen.

Angela Merkel hat in der Euro-Finanzkrise Südeuropa dazu gebracht, sich ökonomischen Zwängen zu unterwerfen und konsequenten Schuldenabbau zu betreiben. Sie hat in der ersten Ukraine-Krise 2014 im Minsker Abkommen Waffenruhe beziehungsweise Frieden für die Ukraine erreicht. Sie hat in der Flüchtlingskrise erste Hilfe für die gestrandeten Flüchtlingen geleistet, aber danach mit dem Balkan, der Türkei und der EU den Zustrom gedrosselt.

Die heutige Energiekrise geht auf die durch Schröders Kumpanei mit Putin entstandenen Ostsee-Pipelines zurück, die zur Abhängigkeit vom billigen russischen Gas führten. Wenn Merkel vor acht Jahren versucht hätte, die Einfuhr von doppelt so teurem Flüssiggas über LNG-Terminals zu erzwingen, wären Industrie, Verbraucher und der eigene Koalitionspartner dagegen Sturm gelaufen.

Die heutige Ukraine-Krise geht auf Putins neues Streben nach einer Revision der Nachkriegsordnung zurück. Er möchte die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandenen neuen Grenzen zurückverschieben: Erst die Krim, dann den Donbass, schließlich die ganze Ukraine. Dank der im Minsker Abkommen von Merkel erreichten Waffenruhe konnte die Wehrhaftigkeit der Ukraine inzwischen so verbessert werden, dass sie gegen Putins Armee standhielt.

Wo Merkel keine Reformen durchsetzen konnte (Steuern, Einkommens- und Vermögensgerechtigkeit, Familienpolitik, Klima, Gesundheitssystem), lag es daran, dass die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat entsprechendes Handeln unmöglich machten.

In 16 Jahren Kanzlerschaft hat uns Merkel durch viele Krisen geführt. Sie fand pragmatische Lösungen und brachte sie international durch. Ihre große Vision war Europa. In der übrigen Welt gilt sie als die allseits respektierte Krisenmanagerin.

Helmut Schön, Ravensburg

Was für eine Farce

Angela Merkel als ehemalige Bundeskanzlerin erhält für eine gescheiterte Integrationspolitik von einem damals gescheiterten Außenminister und derzeitigem Bundespräsidenten den höchsten Verdienstorden der BRD. Es gab doch letztendlich für Angela Merkel keine wesentlichen Verdienste. Unser Land wurde in einem desolaten und abgeschafften Zustand an ihren Nachfolger übergeben.

Stefan Herb, Roding

Deutschlands Einfluss schwindet

Zahlreiche Kommentatoren gefallen sich in den letzten Monaten in besserwisserischer Kritik an der Politik der vergangenen Jahrzehnte. In Bezug auf die Politik gegenüber Russland und China sehe ich keinerlei Hinweise oder Beweise, dass durch eine andere Politik zum Beispiel der Angriff Russlands auf die Ukraine verhindert worden wäre - etwa durch Säbelrasseln des Westens. Deutschland wird durch die neue Außenpolitik der mehr oder weniger Konfrontation international als notorischer Besserwisser und unerwünschter Ratgeber und Lehrmeister wahrgenommen.

Unser Einfluss schwindet, die Wirtschaft und unser Gesellschaftsmodell nehmen Schaden. Die nassforsche Unprofessionalität unserer "Chefdiplomatin" (Anm. d. Red: Gemeint ist offenbar Außenministerin Annalena Baerbock) verschärft den Schaden für unser Land. Das wäre unter Kanzlerin Merkel sicher nicht passiert. Insofern hat die frühere Bundeskanzlerin ihre Auszeichnung aus Sicht der Mehrheit unserer Bevölkerung mehr als verdient. Die Medien und ein Großteil der sogenannten Meinungsjournalisten zeichnen hier meines Erachtens ein schiefes Bild der Mehrheitsmeinung.

Norbert Gehrke, Ennigerloh

Das Volk lässt kleben

Bismarcks Jahre auf dem Reichskanzlerstuhl waren zu viele. Adenauers Zeit im Bundeskanzleramt ebenso. Kohls Aussitzen sowieso. Merkel blieb sitzen, weil niemand den Stuhl wollte, auf dem sie saß. Was sagt uns das? Schuld sind nicht die, die auf ihren Sesseln kleben blieben. Schuld war immer die Unfähigkeit in Politik und Gesellschaft, ernsthafte und glaubwürdige Alternativen für diese höchsten Posten zu finden. Also primär muss sich das Volk immer zuerst an die eigene Nase fassen.

Detlef Rilling, Scharbeutz

Und ohne Ukraine-Krieg?

Der Kommentar von Nicolas Richter ist aus heutiger Sicht korrekt. Doch wie wäre dieser Kommentar ausgefallen, hätte Putin nicht die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen? Öl und Gas aus Russland würden noch in Strömen fließen. Angela Merkel kann nichts dafür, eher muss man wohl sagen, dass sie allein aufgrund ihrer Persönlichkeit einen früheren Ausbruch des Krieges verhindert hat. Es ist schwer vorstellbar, dass Putin den Krieg begonnen hätte, wäre Angela Merkel noch Bundeskanzlerin.

Unstrittig ist, dass Angela Merkel während ihrer Amtszeit nicht immer alles richtig gemacht hat. Doch hat Olaf Scholz während seiner, im Verhältnis sehr kurzen Amtszeit, nicht schon mehr Fehler begangen als Merkel in 16 Jahren? Es ging unserem Land in den Merkel-Jahren nicht schlecht, und deshalb halte ich die Auszeichnung für angemessen.

Michael Neumann, Eching

Buntes Email-Plättchen

Als ich den Kommentar von Herrn Frei las, dachte ich zuerst: ein Orden, der in der Geschichte der BRD erst drei Mal vergeben wurde, wird so ausführlich besprochen? Wo ist die gesellschaftliche Relevanz? Es handelt sich doch um einen Orden, den Politiker Politikern um den Hals hängen. Also eine politikinterne Lobhudelei. Als ich dann las, wie Herr Frei begründet, dass Frau Merkel diese Auszeichnung gebührt, nämlich "keine Abwahl, kein Sturz, kein Untergang", war ich baff. Dafür muss man sie auszeichnen? Dafür gibt es also diesen Orden?

Wenn schon, dann sollte man es machen wie die Militärs: schöne bunte Spangen in möglichst großer Zahl. Vom einfachen Abgeordneten angefangen, der seine politische Karriere nach dem Motto "keine Abwahl, kein Sturz, kein Untergang" hinter sich gebracht hat bis hin zu den allseits bekannten Politikfossilien. Für jedes Jahr ein neues buntes Email-Plättchen. Oder man schafft diese Folklore ab.

Aus der ganzen Sache kann man doch nur schließen, dass sich ausschließlich lang gediente Kanzlerinnen und Kanzler so wirklich um das gekümmert und verdient gemacht haben, was sie in ihrem Diensteid geschworen haben. Mir fehlt dazu aber leider jedes Verständnis.

Harald Galatis, Altenkirchen

Selbstkritik erwünscht

Der berechtigten Kritik an der "politischen Bilanz" von 16 langen Jahren der Regierung Merkel wäre noch so manches hinzuzufügen. Aber auch ein wenig Selbstkritik: Hätten die Medien Angela Merkel nicht so überaus wohlwollend und schonend behandelt wie keinen Kanzler zuvor, sie zur "Anführerin der freien Welt" hochgejubelt und ihr dabei zum Beispiel die widersprüchlichsten Tugenden lobend zugesprochen (einerseits "fuhr sie stets auf Sicht", andererseits "dachte sie die Dinge immer vom Ende her"), wäre sie wohl nicht viermal zur Kanzlerin gewählt worden.

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin

Gütiges Lächeln

"Altkanzlerin Angela Merkel erhielt von Bundespräsident Steinmeier das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in besonderer Ausführung"; die höchstmögliche Auszeichnung für Kanzlerschaft. "Vor ihr erhielten nur Konrad Adenauer (1954) sowie Helmut Kohl (1998) das Großkreuz in besonderer Ausführung."

Und Willy Brandt und Helmut Schmidt schauen mit einem gütigen Lächeln vom Himmel herab auf Schloss Bellevue, den Amtssitz des Bundespräsidenten.

Michael Mieslinger, Eichenau

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