Mit losen Blättern und Aktenordnern hat Nils Britze schon vor der Corona-Krise nur selten hantiert. Höchstens mal Visitenkarten oder Flyer hätten auf seinem Schreibtisch herumgelegen, meint der Bereichsleiter Digitale Geschäftsprozesse beim IT-Branchenverband Bitkom: "Seit ich ins Home-Office umgezogen bin, arbeite ich völlig papierlos, schon weil ich gar keinen Drucker zu Hause habe. Das funktioniert sehr gut."
Wie die jüngste, noch nicht veröffentlichte repräsentative Bitkom-Erhebung zeigt, hat die Pandemie die Digitalisierung der Wirtschaft stark beschleunigt: 86 Prozent der gut 1100 befragten Unternehmen - und damit mehr als doppelt soviel wie bei der letzten Erhebung 2018 - gaben an, sie seien bereit, Kommunikationsprozesse zu digitalisieren. 60 Prozent aller Unternehmen und sogar 90 Prozent der großen Konzerne nutzen Software-Technologien, um Inhalte aller Art digital zu erfassen, zu bearbeiten und zu archivieren: von Rechnungen und Lieferscheinen über Angebote und Projektbeschreibungen bis zu Personalakten und Arbeitsanweisungen.
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Besonders Rechnungen werden inzwischen meist digital eingereicht, bearbeitet und beglichen. Beschleunigt wurde diese Umstellung durch das E-Rechnungs-Gesetz von 2016, das Bund, Länder und Kommunen dazu verpflichtete, bis April 2020 die Voraussetzungen für Empfang und Verarbeitung elektronischer Rechnungen zu schaffen. Ab November dürfen die Lieferanten des Bundes ihre Rechnungen nicht mehr auf Papier stellen.
Wie weit die Digitalisierung von Geschäftsprozessen fortgeschritten ist, zeigt auch die Studie "Arbeiten in der Corona-Pandemie" des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation vom vergangenen Juli. Danach hatten drei von vier befragten Unternehmen schon vor der Krise VPN-Zugänge, über die Mitarbeiter aus der Ferne auf das Firmennetzwerk zugreifen können. Bei neun von zehn waren Prozesse wie die Reisekostenabrechnung vollständig digitalisiert.
Vor zehn Jahren wurde ungefähr so viel Papier verbraucht wie heute
Seit Beginn der Pandemie haben die Unternehmen noch einmal kräftig in Hardware- und Software-Ausstattung investiert, vor allem Anbieter von Cloud-Lösungen profitierten. Die technologischen Voraussetzungen für das papierlose Büro - das jetzt schon seit mehr als 50 Jahren prophezeit wird - sind heute also eigentlich gegeben. Doch trotz des massenhaften Umzugs von Mitarbeitern ins Home-Office, trotz neuer Gesetzen und mehr Umweltbewusstsein wird weiterhin munter ausgedruckt und kopiert.
Laut dem Marktforschungsunternehmen IDC ging der Verkauf von hochwertigen Büro-Druckern in Deutschland in diesem Jahr zwar zurück, dafür wurden jedoch mehr Geräte verkauft, die für das Home-Office geeignet sind. Der Verbrauch von Büropapieren ist seit Beginn der Pandemie nicht gesunken. Auch im Zehnjahresvergleich ist nur ein leichter Rückgang zu beobachten: So wurden 2010 nach Angaben des Verbands Deutscher Papierfabriken (VDP) 565 000 Tonnen A3- und A4-Papier verbraucht, 2019 waren es 510 000 und in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 255 000 Tonnen. "Die Corona-Pandemie scheint keine Auswirkungen gehabt zu haben. Wir erwarten, dass der Verbrauch sich auf Vorjahresniveau bewegen wird", sagt VDP-Sprecher Gregor Geiger.
Der Hauptgrund dafür dürften langjährige Gewohnheiten sein: Inwieweit Beschäftigte ohne gedrucktes Papier arbeiten können und wollen, hängt auch von ihrem Alter ab. Zu den wenigen Unternehmen in Deutschland, die fast vollständig auf Gedrucktes verzichten, gehört das Münchner Versicherungsunternehmen Ottonova. "Unsere Zielgruppe sind vor allem Menschen unter 35. Die sind es gewohnt und haben auch das Bedürfnis, vieles digital zu erledigen", sagt Stefan Strobl, der die digitalen Produkte von Ottonova verantwortet.
Kundenfragen werden per Chat beantwortet, auch der Vertragsabschluss funktioniert rein digital, alle internen Geschäftsprozesse sowieso. Stefan Strobl kann sich das Arbeiten kaum anders vorstellen: "Ich habe alle meine Unterlagen auf meinem Rechner und kann jederzeit von jedem Ort aus darauf zugreifen. Das ist viel bequemer und praktischer, weil man nie lange suchen muss." Ganz ohne Papier komme man aber trotzdem nicht aus, sagt Strobl, "weil einige unserer Partner - zum Beispiel Behörden und Versicherungsmakler - teilweise noch analog kommunizieren".
Die sogenannte Schriftformerfordernis ist eine weitere Hürde
Das ist ein typisches Hindernis auf dem Weg zum papierlosen Büro: Was intern funktioniert, klappt nicht mehr, sobald Kunden oder Lieferanten ins Spiel kommen. "Deshalb sind bei der Digitalisierung von Geschäftsprozessen Buchhaltung und Personalabteilung in der Praxis oft am weitesten. Der Papieranteil ist in den Abteilungen höher, die viel mit externen Partnern zusammenarbeiten", erklärt Nils Britze von Bitkom.
Während das 2015 gegründete Start-up Ottonova nie anders als digital gearbeitet hat, müssen sich andere Unternehmen komplett umstellen, was zeitaufwendig und teuer ist. Ein Vorreiter war die auf Ingenieurdienstleistungen spezialisierte Zeitarbeitsfirma Brunel. Vor etwa zehn Jahren habe man angefangen, die Prozesse rund um Rechnungen und Stundenzettel zu digitalisieren, sagt der kaufmännische Geschäftsführer Heiner Lammers.
"Wir haben über 40 Standorte mit rund 3200 Mitarbeitern, von denen die Mehrheit bei Kunden im Einsatz sind. Wenn deren Stundenzettel alle auf Papier in der Zentrale eingehen würden, bräuchten wir dafür mindestens eine zusätzliche Stelle in der Verwaltung", sagt Lammers. Heute laufe im Unternehmen fast alles digital, mit einer Ausnahme: "Unsere Verträge mit Kunden sowie unsere Arbeits- und Mietverträge sind weiterhin auf Papier. Das liegt daran, dass nicht alle Gerichte digitale Dokumente akzeptieren."
Die sogenannte Schriftformerfordernis ist eine weitere Hürde für das papierlose Arbeiten. Sie gilt für notarielle Dokumente und für viele Verträge: Damit sie rechtsgültig sind, müssen die Vertragspartner sie unterzeichnen. In vielen Fällen ist heute zwar ersatzweise eine elektronische Unterschrift erlaubt, auch die sichere Archivierung in der Cloud ist technisch möglich. Doch bevorzugen die meisten Menschen - und offenbar auch viele Entscheider in Unternehmen - bei wichtigen Dokumenten nach wie vor die gedruckte Form. Bisher nutzt nur ein Drittel der deutschen Unternehmen E-Signaturen oder plant, sie einzuführen.
Obwohl Heiner Lammers insgesamt von den Vorteilen des papierarmen Arbeitens überzeugt ist, hat er regelmäßig mit praktischen Problemen zu tun. Die großen Unternehmen, bei denen Brunel-Ingenieure eingesetzt werden, akzeptieren ebenfalls nur digitale Stundenzettel. Manche verwenden aber ein anderes System, mit dem es keine Schnittstelle gibt. "Das bedeutet dann für die Mitarbeiter, dass sie die ganze Dokumentation zweimal machen müssen", sagt Lammers.
"Viele Menschen arbeiten einfach gerne mit Papier"
Ein altbekannter, aber deshalb nicht weniger großer Nachteil des papierlosen Arbeitens sei die Informationsflut: "Jeder schickt jedem alles. Wir haben deshalb Regeln aufgestellt, wie man zum Beispiel seinen E-Mail-Verteilerkreis auswählt, wer in Kopie oder in Blindkopie gesetzt wird und so weiter. Dieses Thema wird immer wichtiger."
Wenn es darum geht, komplexe Sachverhalte zu vermitteln, scheint Gedrucktes ohnehin unersetzlich zu sein: Eine wissenschaftliche Metastudie zur Zukunft des Lesens ergab im vergangenen Jahr, dass längere Informationstexte besser verstanden werden, wenn man sie auf Papier liest statt am Bildschirm. Auch bei einer Studie im Auftrag des Drucker-Herstellers Kyocera gab 2019 fast die Hälfte der gut 1500 befragten deutschen Büroangestellten an, dass Dokumente auf Papier besser zu lesen seien. Ebenso viele erklärten, sie könnten mit Papier und Stift kreativer arbeiten. Auch für Notizen bevorzugte ein Großteil der Befragten die Papierform.
Ganz digital wird Büroarbeit also wahrscheinlich niemals werden. Das sei auch gar nicht nötig, meint Nils Britze: "Das Schlagwort vom papierlosen Büro ist eher eine Zielbeschreibung als die Realität. Viele Menschen arbeiten einfach gern mit Papier. Problematisch ist allerdings, wenn es dadurch zu Medienbrüchen kommt, die zu zusätzlichem Aufwand führen." Ein Beispiel dafür ist die verbreitete Praxis, Dokumente auszudrucken, handschriftliche Anmerkungen hinzuzufügen, das Ganze wieder einzuscannen und elektronisch zu versenden. Britze ist aber optimistisch, dass solche Arbeitsweisen nach und nach verschwinden werden. Schließlich gibt es heute auch fast keine Vorgesetzten mehr, die Mails von ihrer Sekretärin ausdrucken und abheften lassen.