Moderne Arbeitswelt:Scheitern? Gehört halt dazu

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Lebenslang den gleichen Arbeitgeber - das war einmal. Moderne Berufsbiographien sind von Brüchen gekennzeichnet, von Erfahrungen des Scheiterns und von ständigen Neustarts. Einige Menschen zerbrechen daran. Doch die Unplanbarkeit der neuen Arbeitswelt birgt auch Chancen.

Anne-Ev Ustorf

Rolf Wagner gehört einer aussterbenden Gattung an. Fast 50 Jahre lang arbeitete der Einzelhandelskaufmann in derselben Firma und stieg in dieser Zeit vom Lehrling zum kaufmännischen Leiter auf. Der 68-Jährige kann also auf eine klassische Vollerwerbsbiographie zurückblicken, die ihm eine Menge Planungssicherheit im Leben bescherte - und die es heute kaum mehr gibt.

Öfter mal Kisten packen im Büro: In der modernen Arbeitswelt sind Jobwechsel nicht so selten. (Foto: DPA)

"Ich bin gut abgesichert", sagt Wagner. "Wenn ich mir anschaue, wie die jungen Leute heute kämpfen müssen, dann tun die mir leid. Immer diese Jobwechsel. Meine Tochter hat es viel schwerer als ich." Die Zukunft seiner Tochter, einer Medien-Freelancerin, beschert dem Rentner manchmal schlaflose Nächte. "Im Medienbereich gibt es kaum noch Festanstellungen und Verbindlichkeit", sagt er. "Wie sie damit später eine Familie gründen will, weiß ich nicht."

Dennoch sind solche Karrieren heute ganz normal. Mittlerweile richtet sich kaum noch ein Angestellter wie Rolf Wagner lebenslang beim selben Arbeitgeber ein. Vielmehr gleicht das Berufsleben des 21. Jahrhunderts einer Abfolge von Projekten, die dem einzelnen Arbeitnehmer ein hohes Maß an Flexibilität und Eigenverantwortlichkeit abfordern.

An die Stelle einer "langfristigen Ordnung" sei ein "neues Regime kurzfristiger Zeit" getreten, schrieb der Soziologe Richard Sennett in seinem Bestseller "Der flexible Mensch" und kritisierte, dass der entfesselte Kapitalismus unserer Zeit alle Grenzen überschreite und institutionelle Strukturen demontiere, in denen Beschäftigte zuvor Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrungen hätten erfahren können.

Tatsächlich tendieren große Firmen heute dazu, Mitarbeiter nach zwei Jahren auszutauschen, um keine Gehaltserhöhungen zahlen zu müssen. Auch Zeitverträge und Outsourcing sind gang und gäbe. "Ständiger Wandel ist ein Kennzeichen unserer Arbeitswelt", so das Ergebnis einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation aus dem Jahr 2003.

In dem von Jutta Allmendinger herausgegebenen Band "Karriere ohne Vorlage" schreibt der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp gar, dass dieser gesellschaftliche Wandel nicht nur die Arbeitswelt, sondern mittlerweile die gesamte Lebensgestaltung betreffe. "Es hat sich ein tiefgreifender Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzogen", so Keupp. "In der Arbeitswelt wird der Umbruch nur am deutlichsten."

Doch was bedeutet das für die Berufstätigen? Zunächst einmal, dass die alten Vorstellungen von Arbeit überholt sind. Arbeitnehmer leben - ob sie es wollen oder nicht - in einer Zeit, in der die Wirtschaft und die Gesellschaft die Verantwortung abgegeben und an den Einzelnen übertragen haben. Es existieren kaum noch Firmen, innerhalb derer man, einmal eingeschleust, langsam aber sicher in die Führungsetage gespült wird.

Arbeitnehmer sind dafür verantwortlich, wie ihre Karriere aussehen soll. Sie brauchen den Willen und die Fähigkeit, die eigene Karriere selbst in die Hand zu nehmen. Doch nicht alle kommen damit zurecht. Viele Menschen überfordert die Rolle als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft. Manche zerbrechen daran und noch viel mehr beuten sich selbst dabei aus. Die allgegenwärtige Drohung, "nichts aus sich machen zu können", wie Richard Sennett schreibt, setzt viele Menschen in einer fragmentierten Lebens- und Arbeitswelt enorm unter Druck. Sie scheitern an der Aufgabe, "durch eine Arbeit eine Identität zu erlangen".

Dabei ist das Scheitern heute beinahe unumgänglich. Menschen fliegen aus einem vermeintlich sicheren Job, weil das Unternehmen Arbeitsplätze nach Indien auslagert. Sie werden aus Führungspositionen gefeuert, weil ihre Abteilung hohe Umsatzerwartungen nicht erfüllen kann. Sie bekommen keinen Job, obwohl sie beste Abschlüsse und Referenzen haben. Oft ist es schwierig, die genauen Gründe für das eigene Scheitern zu benennen. Die Zusammenhänge sind manchmal unüberschaubar.

Dennoch gibt es leisen Grund für Optimismus, nicht nur wegen des momentanen Aufschwungs am Arbeitsmarkt. Der "tiefgreifende Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden Systemen", wie Heiner Keupp schreibt, hat bei allen Nachteilen auch Vorteile. Denn der einzelne Mensch verfügt heute über viel größere Freiheiten zur individuellen Lebensgestaltung als früher. Er kann seine Arbeit selbst definieren und strukturieren und daraus einen großen Lebensgewinn ziehen. Und das kann auch zufrieden machen.

Eine psychologische Studie der FernUniversität Hagen über die Berufssituation von Medien-Freelancern belegte jüngst, dass viele Freiberufler glücklicher sind als vermutet. Obwohl sie häufig ursprünglich nicht freiberuflich arbeiten wollten, schätzten die Freelancer heute vor allem ihr eigenverantwortliches, kreatives und unabhängiges Arbeiten. "Freelancer empfinden Zufriedenheit, weil sie ihre Arbeitsziele konsequent verfolgen, die Dinge in die eigenen Hände nehmen und die Qualität ihrer Arbeit verbessern können", schreiben die Forscher. Die Freiheit, die eigene Arbeit selbst definieren zu können, ist also nicht nur Belastung, sondern auch ein hohes Gut.

Wenn da nur die gelegentliche Existenzangst nicht wäre, die Millionen Arbeitnehmer und Freiberufler immer wieder am Nacken packt. Eine Angst, die angesichts der fortschreitenden Fragmentierung unserer Arbeitswelt vielleicht nicht mehr nur dem Individuum überlassen werden sollte. Die ganze Gesellschaft sollte sie mittragen, indem sie Menschen in beruflichen Veränderungsprozessen mit mehr Wertschätzung, mehr fachlicher und vielleicht auch finanzieller Unterstützung begegnet. Dann wäre die schöne neue Arbeitswelt nicht mehr ganz so furchteinflößend.

© SZ vom 17.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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