Krank im Büro:Der Körper ist anwesend, der Geist ist schwach

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Volkskrankheit "Präsentismus": In der Krise schleppen sich Arbeitnehmer auch krank ins Büro - und schaden damit nicht nur sich selbst.

Wer Husten oder Fieber hat, sollte im Bett bleiben. Das tun viele Beschäftigte aber nicht: Acht von zehn gehen auch krank zur Arbeit, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ermittelt hat. Jeder Zweite ist sogar schon mehrfach zur Arbeit gekommen, obwohl er sich "richtig krank" fühlte. Das Schuften auf Kosten der eigenen Gesundheit hängt gerade in der Krise mit der Angst um den Arbeitsplatz zusammen, meint Charlotte Woldt, die den DGB-Index Gute Arbeit in Berlin mitbetreut.

Präsentismus nennen Experten das Phänomen, wenn Mitarbeiter Überstunden schieben oder krank zur Arbeit kommen, um einen guten Eindruck beim Chef zu machen. Damit tun sie auf lange Sicht aber weder sich selbst noch dem Betrieb einen Gefallen: Denn wer sich überlastet, ist schnell unkonzentriert und macht mehr Fehler als sonst. Und wenn Mitarbeiter ausfallen, weil sie bis zum Umfallen schuften, drückt das letztlich die Produktivität.

Es fehlen die richtigen Vorbilder

Der beste Schutz gegen chronische Überlastung seien die richtigen Vorbilder, sagt Stephan Kaiser, Professor für Personalmanagement an der Universität München. "Der Vorgesetzte muss das vorleben und unterstützen."

Dass "Extremjobber" Probleme mit der Work-Life-Balance bekommen, sei mitunter aber ein knallhartes wirtschaftliches Kalkül: "Gewisse Konzernkarrieren funktionieren nicht ohne Überstunden." Zwar gibt es Kaiser zufolge Naturelle, die eine 60- bis 80-Stundenwoche auf Dauer durchhalten. Die Mehrheit komme aber nach ein paar Jahren zu der Erkenntnis: "Das ist nicht das Leben, das ich führen will." Dann sei es Zeit für ein Gespräch mit dem Vorgesetzten und eine Beratung. Denn sonst drohen ein Burn-out, Panikattacken vor dem Bildschirm oder die innere Kündigung. Und wenn sich an dem Problem nichts ändert, wirkt sich das auch auf die Arbeitshaltung aus: "Trendstudien besagen, dass sich die Grundeinstellung zur Arbeit wandelt und die Loyalität zum Arbeitgeber abnimmt", erläutert Kaiser.

Der Gipfel ist noch nicht erreicht

Unbezahlte Mehrarbeit ist zum einen bei Akademikern und Führungskräften verbreitet, wie die Daten des DGB verdeutlichen. Zum anderen bei Mitarbeitern, die um ihren Arbeitsplatz bangen: "Präsentismus und Überstunden haben durch die Wirtschaftskrise zugenommen, und ich fürchte, wir haben den Gipfel noch nicht erreicht", sagt Elke Diehl, die als Coach in Freudenberg arbeitet. Um dem entgegenzuwirken, helfe es im ersten Schritt, die Ursachen zu analysieren und sich Gegenmaßnahmen zu überlegen: Was belastet mich, und was gibt mir neue Energie? Was meldet der Körper in kritischen Situationen, und wie lassen sich ungesunde Verhaltensweisen steuern?

Aber allen Seminaren zur Stressbewältigung zum Trotz: Sind Überstunden und Überbelastung am Arbeitsplatz ein Krankmacher, muss das Gespräch mit dem Vorgesetzten gesucht werden. In Betrieben ohne Zeiterfassungssystem dokumentiert der Arbeitnehmer am besten einige Wochen lang seine Aufgabenstellungen und wie lange er dafür benötigt hat, rät der Rechtsanwalt Andreas Reichhardt aus Stuttgart. Während in großen, gut organisierten Betrieben die Personalabteilung auf die Mehrarbeiter zukommt und nach Lösungen sucht, würden Überstunden in kleinen und mittleren Betrieben oft nicht protokolliert.

Finanzielle Nachteile

Das hat auch finanzielle Nachteile: Der Grundsatz "Überstunden müssen vergütet werden" gelte nur, wenn der Arbeitgeber diese angeordnet oder wenigstens geduldet hat, erklärt Reichhardt. Daher sei die Initiative des Arbeitnehmers gefragt: "Am Ende des Monats sollten Vorgesetzter und Mitarbeiter gemeinsam nach den Gründen für die Mehrarbeit und nach einer Lösung suchen." In einem Rechtsstreit muss der Angestellte auf jeden Fall beweisen können, dass er die Überstunden tatsächlich geleistet hat, beispielsweise durch eine Unterschrift des Vorgesetzten auf seinem Arbeitszeitenprotokoll.

Ein Richtwert sei hierbei die Zehn-Prozent-Marke: "Wenn eine Teilzeitkraft etwa wöchentlich zwei, drei Stunden mehr arbeitet, muss der Arbeitgeber die Überstunden ausgleichen oder den Vertrag ändern", sagt Reichhardt. Das deckt sich der DGB-Studie zufolge mit den Wünschen von Teilzeitbeschäftigten: Anders als ihre Vollzeit-Kollegen wollen sie lieber länger als kürzer arbeiten, solange das bezahlt und vertraglich geregelt wird.

© sueddeutsche.de/dpa/Deike Uhtenwoldt/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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