Der ständige Trubel, dazu der Kontakt mit den Kunden - jahrelang fühlte sich Ruth Groll in ihrem Job in einem Autohaus unwohl und überfordert. "Irgendwann war ich so ausgebrannt, dass ich gekündigt habe", erzählt die heute 52-Jährige. Auch heute, bei der Arbeit in der Buchhaltung einer Firma, hat sie Schwierigkeiten mit ihrem Platz in einem Großraumbüro. Das ständige Stimmengewirr, knallende Türen und Telefonklingeln strengen sie an. In der Mittagspause isst Groll am liebsten allein. Sie braucht diese Zeit, um Kraft zu tanken.
Wie Schätzungen zufolge etwa 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung hat Ruth Groll ein introvertiertes Naturell. "Introvertierte sind nach innen gewendet und brauchen viel Ruhe. Bei ihnen fließt ein Großteil der Energie in Reflexion und Informationsverarbeitung", sagt Sprachwissenschaftlerin Sylvia Löhken, die sich mit diesem Wesenszug beschäftigt hat. Introvertierte Mitarbeiter arbeiten gerne längere Zeit konzentriert an einem Projekt und sind gut im analytischen Denken. "Trotzdem werden sie häufig unterschätzt, weil sie ihre Leistungen nicht überzeugend genug kommunizieren."
Auch hätten introvertierte Menschen Probleme damit, sich in Meetings zu Wort zu melden oder spontan vor einer größeren Gruppe zu sprechen, sagt Ute Bölke, Karriereberaterin in Wiesbaden. "Ihnen bereitet es große Schwierigkeiten, wenn sie in der Öffentlichkeit in Situationen geraten, auf die sie sich nicht vorbereiten können." Dazu gehöre auch Small Talk auf Veranstaltungen und Betriebsfeiern.
"Ein riesiges Potenzial wird verschenkt"
Viele ihrer Klienten beklagten sich, weil sie nicht wahrgenommen würden. "Weil die extrovertierten Mitarbeiter meist im Vordergrund stehen, wird ein riesiges Potenzial an guten Ideen und substanziellen Beiträgen verschenkt", so Löhken. Leider fänden in vielen Firmen lautere Menschen mehr Gehör.
Bis sich daran etwas ändert, können jedoch auch Introvertierte selbst viel tun, um im Job stärker auf sich aufmerksam zu machen. Vor allem die nonverbale Kommunikation sei für stillere Menschen wichtig, um nicht als desinteressiert oder arrogant abgestempelt zu werden, erläutert Stephanie Hollstein, Karriereberaterin aus Düsseldorf. "Ein freundliches Lächeln, ein aufmerksames Nicken oder eine offene Körpersprache - all das kann beim Gegenüber viel bewirken."
In Meetings sei es förderlich, sich sichtbar und aufrecht hinzusetzen, und so Interesse zu signalisieren. Außerdem sollten sich introvertierte Personen für solche Zusammenkünfte Ziele setzen. "Man kann sich beispielsweise vornehmen, wenigstens einen Redebeitrag einzubringen", rät Bölke. Diesen bereiten stille Mitarbeiter am besten mit einigen Notizen vor. Wer befürchtet, nicht zu Wort zu kommen, sollte dem Chef im Vorfeld eine E-Mail schreiben und darum bitten, dass der Punkt in die Tagesordnung aufgenommen wird. "Dann kann man sich nicht mehr vor einer Wortmeldung drücken", so Bölke.
Auch für Netzwerk-Veranstaltungen sei eine gute Vorbereitung wichtig, sagt Hollstein. "Wenn man dort bestimmte Personen kennenlernen möchte, kann man diese vorher googeln und sich gemeinsame Themen überlegen." Solche Ziele schafften eine Struktur und die sei für introvertierte Menschen eine große Hilfe, erklärt Löhken. Außerdem könne man sich mit den Personen, die man treffen will, per E-Mail verabreden oder sich vorstellen lassen.
Gewinn für Unternehmen
Um im Job die besten Leistungen zu bringen, bräuchten introvertierte Personen ein ruhiges Umfeld. Großraumbüros seien im Grunde ungeeignet. Da introvertierte Personen permanent ihre Umgebung analysieren, seien sie schnell überstimuliert, erläutert Löhken. Hollstein rät deshalb dazu, entweder dem Chef das Problem zu erklären und sich im Großraumbüro eine ruhigere Nische zu suchen oder sich gelegentlich in einen ungenutzten Konferenzraum zurückzuziehen. "Von Zeit zu Zeit im Home-Office zu arbeiten, ist ebenfalls eine Möglichkeit", sagt Hollstein.
Für Unternehmen sind introvertierte Mitarbeiter ein Gewinn. Sie hätten eine ruhige, konzentrierte Arbeitsweise und die Fähigkeit sich großes Expertenwissen anzueignen, erklärt Bölke. Viele seien auch für Führungspositionen geeignet. "Introvertierte Menschen sind gerade deshalb gute Chefs, weil sie nicht ständig im Mittelpunkt stehen müssen, gut zuhören können und über eine große Empathie verfügen."
Berühmte Persönlichkeiten, die als introvertiert gelten, sind laut Löhken beispielsweise Kanzlerin Angela Merkel oder Microsoft-Gründer Bill Gates. "Wenn ihnen etwas wichtig genug ist, können Introvertierte alles schaffen", sagt sie.
Das hat auch Ruth Groll gemerkt. Sie hat an ihrer Körpersprache gearbeitet und versucht, häufiger auf andere Menschen zuzugehen. Das übt sie nun etwa in ihrem neuen Nebenjob als Schmuckverkäuferin. Dort muss sie im Umgang mit den Kunden immer wieder ungewohnte Situationen meistern: "Ich brauche die ständige Herausforderung, um nicht wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen."