Psychotherapie:Viele depressive Menschen werden alleingelassen

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Es kann jeden treffen: Jedes Jahr stellen Ärzte bei mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression fest. (Foto: dpa)
  • Jedes Jahr stellen Ärzte bei mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression fest.
  • Ob eine Diagnose überhaupt gestellt wird, hängt auch vom Wohnort ab. In den Metropolen Berlin und Hamburg liegen die Zahlen über dem Landesdurchschnitt.
  • In ländlichen Regionen werden eher weniger Menschen mit Depression behandelt.

Von Kim Björn Becker, München

Die Gedanken drängen sich ungefragt auf, meist spät am Abend. Das hätte ich sein können, sagt sich Michael Ehmig dann, was, wenn es mich getroffen hätte? Es sind quälende Gedanken, für Außenstehende mögen sie vielleicht sogar sinnlos erscheinen. Für Ehmig waren sie Alltag.

Ein Tag vor bald zehn Jahren. Ehmig, der in Wahrheit anders heißt, studiert gerade im zweiten Semester an einer Universität irgendwo in Westdeutschland. Da erreicht ihn die Nachricht, dass eine gute Bekannte tödlich verunglückt ist. Stundenlanges Grübeln ist die Folge, es raubt dem Studenten den Schlaf, und ohne Schlaf kann er sich in den Vorlesungen kaum konzentrieren. Die Noten leiden darunter, zudem vergisst er vieles, Termine, Einkaufszettel. Dazu kommen immer wieder Wutanfälle. In ihren Zwanzigern sind viele Menschen bekanntlich am leistungsfähigsten, erste Halbzeit, mittendrin im Spiel des Lebens - doch das Schicksal verbannt Ehmig erst einmal auf die Ersatzbank. Er leidet an einer Depression.

Am häufigsten erhalten Menschen mit Ende fünfzig die Diagnose, Frauen eher als Männer

Eine Ausnahme? Keineswegs, Michael Ehmig ist einer von vielen. Jedes Jahr stellen Ärzte bei mehr als fünf Millionen Menschen im Land eine Depression fest. Es trifft Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Am häufigsten erhalten Menschen mit Ende fünfzig die Diagnose, Frauen eher als Männer. Der Arbeitsausfall bei Berufstätigen führt Schätzungen zufolge zu Kosten von mehr als vier Milliarden Euro pro Jahr. Und wenn es stimmt, was viele Fachleute sagen, dann zeigen diese Zahlen nur einen Teil des eigentlich viel größeren Problems - weil wohl längst nicht alle Depressionen behandelt oder auch nur als solche erkannt werden. Jeder vierte Betroffene in Deutschland gilt als unterversorgt, erhält also keine oder keine angemessene Behandlung. Am härtesten trifft das jene, die an einer schweren Depression erkrankt sind. Sie leiden unter einer gedrückten Stimmung, Freudlosigkeit und Antriebsmangel, es können sogar Suizidgedanken hinzukommen - bei ihnen wird fast jeder fünfte Betroffene gar nicht therapiert.

Ob Erkrankte schnell und ausreichend Hilfe bekommen oder nicht, hängt von vielen Dingen ab - unter anderem davon, wo die Person wohnt. Eine Auswertung neuer Daten von Barmer-Versicherten, die der Süddeutschen Zeitung exklusiv vorliegt, zeigt das sehr deutlich. Den Zahlen zufolge haben hiesige Ärzte im Jahr 2015 bundesweit bei durchschnittlich 14 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen im Alter von 40 bis 64 Jahren eine depressive Episode festgestellt. In den Metropolen Berlin und Hamburg lagen die Zahlen allerdings deutlich höher, um bis zu vier Prozentpunkte über dem Durchschnitt. In eher ländlichen Gegenden wie Sachsen und Sachsen-Anhalt weist der Trend in die entgegengesetzte Richtung, dort liegen die Werte teils deutlich unter dem Mittelwert ( siehe Grafik). Diese großen Abweichungen seien "medizinisch nicht erklärbar", sagt Barmer-Chef Christoph Straub. "Möglicherweise werden dort mehr Fälle diagnostiziert, wo es mehr Ärzte, Psychotherapeuten und Psychologen gibt."

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Mehr Ärzte führen zu mehr Diagnosen, diesen Effekt gibt es häufiger. So erhalten Patienten in den wirtschaftlich starken und an Ärzten nicht gerade armen Gegenden wie Bayern deutlich öfter künstliche Kniegelenke als in strukturschwachen Landstrichen. Und ganz ähnlich wie bei Depressionen, so gibt es auch bei den Diagnosen von Aufmerksamkeitsstörungen ein stark ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle.

Die Ärztedichte in Berlin und Hamburg ist denn auch mit Abstand am höchsten, dort kamen zuletzt 706 beziehungsweise 618 Mediziner auf 100 000 Einwohner - in Sachsen und Sachsen-Anhalt waren es nur etwas mehr als 400. Depressionen werden in etwa drei von vier Fällen vom Hausarzt behandelt, den Rest teilen sich Psychiater und Psychologen. Vor ein paar Jahren hat die Bertelsmann-Stiftung berechnet, dass es einen "starken positiven Zusammenhang" zwischen der Häufigkeit der abgerechneten Psychotherapien und der regionalen Dichte der Ärzte und Psychotherapeuten gibt.

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Vor allem auf dem Land fehlt es an Psychotherapeuten, in Berlin gibt es von ihnen pro 100 000 Einwohner etwa dreimal so viele wie in Sachsen oder Thüringen. Für viele Patienten heißt das: Sie müssen lange auf einen Termin warten, manchmal mehrere Monate. Immerhin haben Versicherte seit April einen Anspruch darauf, binnen vier Wochen einen Termin zur bekommen - doch nur zur Sprechstunde, an deren Ende bestenfalls eine Diagnose steht. Für die Behandlung müssen sie nach wie vor warten. Erst vor wenigen Tagen hat das Bundesgesundheitsministerium einen Vorschlag zur Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung vorgelegt. Eines der Ziele des Entwurfs ist es, das Berufsbild attraktiver zu machen. Die Grünen im Bundestag kritisieren allerdings nicht nur, dass der Entwurf viel zu spät komme, er kann vor der Bundestagswahl im September nicht mehr umgesetzt werden. Das Konzept greife auch zu kurz, rügt die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Maria Klein-Schmeink. Denn für die Weiterbildung müssen die Kandidaten derzeit selbst finanziell aufkommen, ohne dabei allzu gut zu verdienen. "Die prekäre finanzielle Situation vieler Psychotherapeuten in Ausbildung ist nicht hinnehmbar und erschwert den Zugang zu diesem Berufsfeld", sagt Klein-Schmeink. Ob eine neue Bundesregierung daran etwas ändert, ist derzeit völlig offen.

Viele Depressive fürchten die Stigmatisierung

Von der Vorstellung, dass das hektische Stadtleben die Menschen häufiger in die Depression treibt als der gemächliche Alltag auf dem Lande, hält Ulrich Hegerl wenig. Der Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Leipziger Uniklinik und Chef der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sagt: "Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, würde ich als überall im Land etwa gleich hoch einschätzen." Zwar sei die Versorgung auf dem Land teils "deutlich" schlechter. Es gebe aber keine sicheren Belege, dass "das Leben in der Großstadt in dieser Hinsicht kränker macht als das auf dem Land." Anders sei es nur bei anderen psychischen Störungen wie etwa Psychosen und Suchterkrankungen, diese könnten schon durch das Stadtleben befördert werden.

Dietrich Munz widerspricht in einem Punkt. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer teilt zwar die Einschätzung Hegerls, dass viele Depressionen zu spät oder nicht erkannt werden. Allerdings ist er nicht überzeugt, dass die Menschen in der Stadt nicht öfter psychisch erkranken als die auf dem Land. "In den Städten haben mehr Menschen eine Depression", sagt Munz. Allerdings gebe es derzeit keine belastbaren Antworten auf die Frage, warum das so ist.

Ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, viele Depressive trauen sich auch aus Angst vor einer gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht zum Arzt. Vielerorts gilt der Gang zum Nervenarzt noch immer als Makel, trotz aller Bemühungen, dies zu ändern. Es werde zwar langsam besser, sagt Psychiater Munz, doch gebe es bei manchen Menschen "noch teils starke Vorbehalte". Wenn ein Erkrankter seine Diagnose offenbare, komme es noch immer häufig zu einer Reaktion nach dem Motto "Reiß' dich zusammen und denke an was Schönes." Die Sorge, von anderen verurteilt zu werden, hielt auch Michael Ehmig lange davon ab, sich Hilfe zu holen - die Vorstellung, von Bekannten beim Betreten oder Verlassen einer Praxis gesehen zu werden, gefiel ihm überhaupt nicht. Medikamente und eine Gesprächstherapie haben ihm schließlich geholfen, einigermaßen aus der Depression herauszukommen. Kürzlich hat Ehmig seinen Uni-Abschluss gemacht, nach zehn Jahren. Die Krankheit, sagt er, habe ihm gut fünf Jahre geraubt.

© SZ vom 03.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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