Psychische Erkrankungen:Offene Psychiatrie für eine offene Gesellschaft

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Offene Stationen schützen genauso gut vor Suizid wie geschlossene, zeigt eine aktuelle Studie. Höchste Zeit also, Kliniken neu zu gestalten.

Kommentar von Astrid Viciano

Statt Sommerferien sechs Wochen in der Psychiatrie? Darüber spricht man nicht. Den Verstand zu verlieren, in Schwermut zu versinken, das passiert immer nur anderen. Und widerfährt es doch jemandem aus dem Bekanntenkreis, legt sich über kurze Betroffenheit bald beklemmendes Schweigen. Den Geist nicht im Griff zu haben, macht Angst, damit möchte man lieber nichts zu tun haben. Und wenn es ganz arg kommt, gehören Patienten am besten auf die geschlossene Station einer psychiatrischen Klinik. Damit sie vor sich selbst geschützt sind und auch andere nicht gefährden.

So dachten auch Mediziner lange Zeit. Doch sie irrten. Geschlossene Türen schützen nicht besser vor Selbstmord oder Suizidversuchen als offene, so zeigt es eine große Studie an 21 deutschen Kliniken. Auch liefen die Patienten auf offenen Stationen nicht öfter weg als auf geschlossenen. Und wenn sie doch mal wegblieben, kamen sie eher von sich aus zurück und vermieden so, anderen in einem wahnhaften Zustand womöglich zu schaden. Das ergibt die Auswertung von Daten des Dokumentationsverbunds Psychiatrie aus 15 Jahren.

Offene Stationen würden psychischen Störungen etwas von ihrem Stigma nehmen

Das ist kein Wunder. Wer möchte schon an einen Ort zurückkehren, an dem man hinter verschlossenen Türen ausharren muss? Beschreiben Psychiater die Stimmung auf diesen Stationen doch manchmal als angespannt und laut. Zumal die psychisch kranken Patienten dann nicht nur sich selbst mit ihrer Erkrankung ablehnen, sondern auch die Klinik, in der sie eigentlich genesen sollen. "Die Patienten fühlen sich entwertet", sagt der Mediziner Karl Beine, einer der Autoren der neuen Studie, die im Fachblatt The Lancet erschienen ist.

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Der Weg zu einer offenen Psychiatrie ist spätestens jetzt geebnet - wohlgemerkt nur für jene schwer kranke Klientel, die nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen ist, nicht im Maßregelvollzug weilt. Doch den Weg zu begehen, fällt vielen noch immer schwer.

Dabei würden offene Stationen auch gesunden Menschen einen anderen Blick auf die Psychiatrie ermöglichen, jenseits vom Bild der Irrenanstalt, das vielen aus historischen Gründen noch durch die Köpfe spukt. Und es würde auch helfen, den Erkrankungen selbst etwas von ihrem Stigma zu nehmen. Offene Stationen für eine offene Gesellschaft.

Statt der Kontrolle könnten Ärzte auf die Eigenständigkeit der Patienten setzen, ihnen über eine vertrauensvolle Beziehung den nötigen Halt geben, um Suizidversuche zu vermeiden. Statt die kranken Menschen zu entwerten, können die Mediziner ihnen neuen Selbstwert vermitteln. Damit sie möglichst bald wieder ins Leben zurückkehren können.

© SZ vom 30.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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