Neurologie:Geheimnisvoller Dämmerzustand

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Symbolbild (Foto: imago)
  • Nach 27 Jahren ist eine Frau in Bad Aibling nach Angaben ihrer Ärzte aus dem Wachkoma aufgewacht.
  • Ein Wachkoma ist nicht einfach von anderen Bewusstseinszuständen abzugrenzen. Es wird oft fehldiagnostiziert.
  • Zwischen 1500 und 5000 Menschen in Deutschland sollen von der Störung betroffen sein.

Von Berit Uhlmann

Auf den ersten Blick scheint das Wort Wunder angebracht. Nach 27 Jahren ist eine Frau - so sagen es ihre Ärzte aus Bad Aibling - aus dem Wachkoma aufgetaucht und hat nach ihrem Sohn gerufen. Ihre Geschichte begann wie die vieler Wachkoma-Patienten. Ein Verkehrsunfall hatte das Hirn der damals 32-Jährigen so schwer geschädigt, dass ihr Körper - Kreislauf, Atmung und Ernährung - nur durch die Hilfe medizinischer Apparaturen funktionieren konnte. Was dagegen in ihrem Kopf vorging, lässt sich allenfalls erahnen.

Wachkoma, in der Medizinersprache "Syndrom reaktionsloser Wachheit" genannt, ist ein seltsamer Zwischenzustand. Die Betroffenen sind nicht komplett von der Welt abgeschottet, wie die Koma-Patienten, die ihre Augen auch auf stärkste Reize hin nicht öffnen. Sie befinden sich aber auch nicht in jenem minimalen Bewusstseinszustand, den Ärzte diagnostizieren, wenn Patienten zaghafte Reaktionen auf ihre Umwelt zeigen, indem sie etwa einem Gegenstand mit dem Blick folgen.

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Bis zu 43 Prozent aller vermeintlichen Wachkoma-Zustände sind Irrtümer

Patienten im Wachkoma öffnen immer wieder die Lider, scheinen aber nichts wahrzunehmen. "Der Patient liegt wach da mit offenen Augen. Der Blick starrt gerade oder gleitet ohne Fixationspunkt verständnislos hin und her. Auch der Versuch, die Aufmerksamkeit hinzulenken, gelingt nicht oder höchstens spurweise", beschrieb der Psychiater Ernst Kretschmer das Phänomen 1940. Die Patienten zeigen zudem einen Tag-Nacht-Rhythmus und einige Reflexe. Zwischen 1500 und 5000 Patienten soll es in Deutschland geben.

Tatsächlich aber ist es schwierig, die einzelnen Bewusstseinszustände voneinander abzugrenzen. Bis zu 43 Prozent aller vermeintlichen Wachkoma-Patienten sind wahrscheinlich falsch diagnostiziert und haben ein mindestens minimales Bewusstsein, heißt es in einer Übersichtsarbeit im Deutschen Ärzteblatt. Zudem scheinen Untersuchungen an den Gehirnen von Wachkoma-Patienten darauf hinzudeuten, dass tief im Kopf vielleicht doch mehr vor sich geht als angenommen. Werden sie beispielsweise aufgefordert, mit den Zehen zu wackeln, bleiben die Füße zwar regungslos, im Gehirn aber zeigen sich bisweilen typische Aktivitätsmuster. Wie diese Befunde zu interpretieren sind, ist umstritten.

Diese Unklarheiten machen es auch schwer einzuschätzen, wie groß das Wunder des späten Erwachens tatsächlich ist. Dass Patienten aus dem Wachkoma wieder zu Bewusstsein kommen können, ist bekannt. Häufiger aber geschieht dies nach einigen Monaten, seltener Jahren. Oft wechseln die Patienten auch nur in einen Zustand minimalen Bewusstseins. Eine Rückkehr zur geistigen Klarheit nach 27 Jahren ist sehr ungewöhnlich. Was in Bad Aibling die Wende brachte, ist unbekannt. Der Fall ist weder von unabhängigen Wissenschaftlern begutachtet noch in einer Fachzeitschrift beschrieben worden.

Einige spektakuläre Fälle der Vergangenheit beruhten vermutlich auf Fehldiagnosen. Der US-Amerikaner Terry Wallis wurde berühmt, weil er angeblich nach 19 Jahren aus dem Wachkoma erwachte. Wissenschaftler vermuten jedoch heute, dass er die meiste Zeit einen minimalen Bewusstseinszustand hatte. Die Amerikanerin Julia Tavalaro wurde sechs Jahre lang für eine Wachkoma-Patientin gehalten, obwohl sie Wahrnehmungen hatte. Später schrieb sie ihre Erlebnisse im Buch "Look up for yes" auf.

Die in Bad Aibling behandelte Frau ist mittlerweile in ihre Heimat, die Vereinigten Arabischen Emirate, zurückgekehrt. Sie kann sprechen und mit einer Hand Bewegungen machen, ist aber weiter auf Pflege angewiesen. Auch dies ist ein typisches Schicksal ehemaliger Wachkoma-Patienten.

© SZ vom 26.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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