Medizin:Das späte Leiden nach der Infektion

Lesezeit: 3 Min.

Das Epstein-Barr-Virus unter dem Elektronenmikroskop: kugelförmige Viruspartikel umgeben von einer Membran. (Foto: Biology Plusjornals/Wiki Commons (CC BY 2.5))

Spielt das Epstein-Barr-Virus die entscheidende Rolle in der Entstehung von Multipler Sklerose?

Von Werner Bartens

Vor Viren wird gewarnt. Dieser Hinweis kann Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen, nach zwei Jahren Pandemie ist er besonders aktuell. Insofern ist der Aussage von Forschern aus Harvard, wonach eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) das Risiko für Multiple Sklerose (MS) deutlich erhöht, Aufmerksamkeit gewiss. Neurologen, Immunologen und Epidemiologen legen im Fachmagazin Science eine entsprechende Studie vor.

Multiple Sklerose ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dabei werden die schützenden Myelin-Scheiden in Gehirn und Rückenmark angegriffen, von denen die Nervenfasern umhüllt sind, was nach und nach die Nervenfunktion beeinträchtigt. Um den möglichen Zusammenhang zwischen Viruserkrankung und Nervenzerstörung zu erforschen, konnte das Team um Alberto Ascherio auf Daten von zehn Millionen Erwachsenen zurückgreifen, die zwischen 1993 und 2013 Dienst in der US Army angetreten haben. Da Armeeangehörige alle zwei Jahre auf HIV getestet werden, lagen umfangreiche Blutproben vor. Diese zeigten, dass fast 95 Prozent der Männer und Frauen Antikörper gegen EBV aufwiesen, also bereits eine Infektion mit dem Virus durchgemacht hatten, das zu Pfeifferschem Drüsenfieber führen kann. Die Krankheit wird auch als Infektiöse Mononukleose und - weil sie so ansteckend ist - im Englischen als "kissing disease" bezeichnet.

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Von den Armeeangestellten erkrankten 955 im Laufe der Jahre an Multipler Sklerose. Bei 35 der Erkrankten konnten in der ersten Blutprobe keine Antikörper gegen EBV nachgewiesen werden - sie waren zum Zeitpunkt der Probennahme also noch nicht mit EBV infiziert und daher seronegativ. Allerdings infizierten sich vor Ausbruch der MS von den 35 Personen 34 mit dem Virus und entwickelten EBV-Antikörper. Zudem wiesen die Forscher in Blutproben jener Probanden, die zunächst EBV-negativ waren, Biomarker für MS nach - Abbauprodukte von Neurofilamenten, die für eine Degeneration von Nervenbahnen sprechen, wie sie für MS typisch ist. Anfangs waren diese Biomarker noch nicht zu entdecken, nach der EBV-Infektion ließen sie sich aber in Blutproben nachweisen und zwar, bevor erste MS-Symptome einsetzten.

Aus diesen Daten schließen die Forscher, dass eine Infektion mit EBV die Wahrscheinlichkeit, an Multipler Sklerose zu erkranken, um das 32-Fache erhöht, während das Risiko nach anderen Virusinfekten nicht steigt, wie die Wissenschaftler mit Antikörpertests auf andere Viren zeigten. "Die Hypothese, dass EBV Multiple Sklerose verursacht, wird von unserer und anderen Gruppen seit Jahren erforscht, aber diese Studie zeigt erstmals Belege für eine Kausalität", sagt Ascherio. "Das ist ein wichtiger Schritt, denn es lässt vermuten, dass die meisten MS-Fälle durch ein Ende der EBV-Infektionen verhindert werden könnten." Zudem könne die Bekämpfung von EBV zur Entdeckung einer Therapie gegen MS führen.

Dutzende genetische Faktoren und Umwelteinflüsse spielen neben der Infektion eine Rolle

Trotz der Datenmenge aus der Langzeitstudie bleiben offene Fragen. Schließlich infizieren sich mehr als 90 Prozent aller Menschen in ihrem Leben mit EBV, aber nur wenige erkranken in der Folge an MS, obwohl das Virus bei allen lebenslang im Körper verbleibt. "Die Daten sprechen für eine Korrelation von EBV-Infektion und MS, was eine Kausalität wahrscheinlich macht, aber nicht beweisen kann", sagt Wolfgang Hammerschmidt vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung. "Die Studie macht es sehr wahrscheinlich, dass eine EBV-Infektion Voraussetzung für MS ist. Aber ist EBV auch die Ursache beziehungsweise der Treiber für MS? Dies kann die Studie nicht beantworten."

Die Schlussfolgerung, dass eine EBV-Infektion die Hauptursache für Multiple Sklerose ist, geht auch anderen Experten zu weit. "Die Daten der vergangenen 20 Jahre zur Ursache der MS besagen, dass es einen komplexen genetischen Hintergrund gibt, der zur MS prädisponiert", sagt Neuroimmunologe Roland Martin, der am Universitätsspital Zürich zu Multipler Sklerose forscht. "Es gibt eine Reihe von Risikogenen. Zudem sind neben einer EBV-Infektion weitere Umweltrisikofaktoren im Zusammenhang mit MS zu nennen." Dazu gehören niedrige Vitamin-D-Spiegel, Rauchen, Fettleibigkeit im späten Kindes- und frühen Erwachsenenalter, ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus in diesem Alter sowie bestimmte Darmbakterien. "Außerdem erhöht eine symptomatische EBV-Infektion - das Pfeiffersche Drüsenfieber, das bei Infektionen nach der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter auftritt - das Risiko deutlich, ungefähr um Faktor sieben", so Martin. "Ob EBV der wichtigste Umweltfaktor ist oder einer unter mehreren, kann die Studie meines Erachtens nicht abschließend klären."

Eine Impfung gegen EBV begrüßen Fachleute. "Theoretisch bedeutet der kausale Zusammenhang zwischen EBV und MS, dass eine Impfung gegen EBV die Entstehung einer MS verhindern sollte", sagt Klemens Ruprecht, Leiter der MS-Ambulanz an der Berliner Charité. "Praktisch stehen derzeit aber keine EBV-Impfstoffe zur Verfügung. Darüber hinaus würde es Jahrzehnte dauern, bis klar wäre, ob ein derartiger Impfstoff tatsächlich Schutz vor MS bietet."

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