Evolutionsbiologe Reichholf hält diesen Graben zwischen tierischer und menschlicher Welt für künstlich und für eine Verschwendung von Ressourcen. "Wissenschaftliche Daten von Tieren, die Menschen ähnlicher sind als Labormäuse, existieren ja längst: in der Tiermedizin oder der Wildtierbiologie. Doch statt sie zu nutzen und daraus für Menschen zu lernen, traktieren wir massenweise Labormäuse."
Obwohl die Vorteile eines interdisziplinären Austausches offensichtlich sind, ist die Wiener Allergologin Erika Jensen-Jarolim mit ihrem Ansatz auf Widerstand gestoßen. "Wir dachten zuerst: Wir können durchstarten mit dem gleichen Medikament für Hund und Herrl, das ist eigentlich für jeden einleuchtend." Mitnichten. Die Beziehung zwischen Human- und Veterinärmedizin ist konfliktbeladen. "Es wird noch viel zu sehr in Hierarchien gedacht", sagt Jensen-Jarolim. Ärzte sähen sich in der Regel weit über einem Veterinärmediziner stehend und würden sich für die Tiermedizin so gut wie gar nicht interessieren. Und auch die Tiermediziner seien noch nicht bereit zum Austausch, sie hätten passend dazu einen Minderwertigkeitskomplex. So scheiterte ihr Antikörper gegen Krebs zunächst, die europäische Pharmaindustrie war nicht interessiert. Erst das National Cancer Institute in den USA, interessierte sich brennend dafür. Dort laufen derzeit erste Studien mit ganz normalen Haushunden.
In den USA haben viele Wissenschaftler das Potenzial der Zusammenarbeit schon längst erkannt: Seit 2010 hat sich eine Gemeinschaft von Veterinär- und Humanmedizinern unter dem Namen "Zoobiquity" formiert. Mehrere Lehrstühle mit dem Titel Comparative Medicine (Vergleichende Medizin) sind entstanden. Der Name der Bewegung ist eine Zusammensetzung aus dem griechischen Begriff für Tier "zo" und Lateinisch für überall "ubique". Also in etwa: Das Tier ist überall.
Die Kardiologin Barbara Natterson-Horowitz von der University of California hat mit einem 2012 zum Thema erschienenen Buch zu einer gewissen Popularität dieser Idee beigetragen. Auf die Idee kam sie, als sie im Frühjahr 2005 in den kalifornischen Zoo gerufen wurde. Ein Routineeinsatz: Wenn wertvolle Wildtiere an komplizierten Krankheiten leiden, greifen die Zoos gern auf Spezialisten aus der Humanmedizin zurück. Mit ihrer Visite bei einem herzkranken Kaiserschnurrbarttamarin, einem kleinen Primaten, begann diesmal für die Ärztin eine Reise ins Dickicht veterinärmedizinischer Forschungsergebnisse.
Der Zootierarzt bat sie damals beiläufig, das Äffchen nicht direkt anzusehen, es könne sonst eine "Fangmyopathie" erleiden. So bezeichnet man den plötzlichen Herztod eines Tieres, ausgelöst durch schweren Stress, etwa beim Einfangen. Natterson-Horowitz fühlte sich sofort erinnert an die Takotsubo-Kardiomyopathie. Dieses Phänomen ist bei Menschen erst seit Anfang des Jahrtausends bekannt.
Betroffene haben beispielsweise einen geliebten Menschen sterben sehen oder sind vor dem Traualtar verlassen worden. Ähnlich wie bei einem Äffchen, das sich in einer ausweglosen Situation wiederfindet, lösen auch hier extreme Emotionen die Herzsymptome aus. "Wie ein Blitz traf mich die Erkenntnis, dass Takotsubo bei Menschen und die Herzveränderungen bei der Fangmyopathie höchstwahrscheinlich etwas miteinander zu tun hatten - wahrscheinlich handelte es sich sogar um ein und dasselbe Syndrom mit unterschiedlichem Namen", schreibt die Kardiologin.
Sie staunte: "Seit mindestens 40 Jahren wissen Tierärzte, dass extreme Furcht bei Tieren Schäden am Herzmuskel hervorrufen kann." Sie lernten schon in der Grundausbildung, welche Vorkehrungen man dagegen treffen müsse. "Auf der anderen Seite stehen die Humanmediziner, die sich Anfang der 2000er Jahre mit einer exotischen Erkenntnis brüsteten, die jedem Veterinärmediziner seit dem ersten Studienjahr vertraut ist."
Noch vor 100 Jahren kümmerte sich ein Landarzt häufig gleichermaßen um Menschen und Tiere
Von da an machte es sich Natterson-Horowitz zur Aufgabe, die Diagnosen der Humanmedizin in veterinärmedizinischen Publikationen nachzuschlagen. In ihrem Buch hat sie etliche Fälle zusammengetragen, bei denen es für ein menschliches Gesundheitsproblem ein Pendant in der Tierwelt gibt. Darunter sind die großen Volkskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs und Herzinfarkt, aber auch spezielle Erkrankungen wie Ess- und Verhaltensstörungen.
Dabei ist der Graben zwischen Tier- und Humanmedizin ein modernes Phänomen. Noch vor 100 Jahren kümmerte sich ein Landarzt häufig gleichermaßen um Menschen und Tiere, auf dem Land noch vor 50 Jahren. Von Rudolf Virchow, dem Vater der modernen Pathologie, ist bekannt, dass er energisch die Auffassung vertrat "dass zwischen Thier- und Menschenarzneikunde wissenschaftlich keine Scheidegrenze ist".
Welche Vorteile aus einer Verbindung der beiden Disziplinen erwachsen, zeigt der Veterinär Jakob Zinsstag vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut, der von "One Health" spricht, also "einer Gesundheit" für Mensch und Tier. Er hatte bereits vor Jahrzehnten in einer Feldstudie im Tschad festgestellt, dass die Kühe der Nomadengemeinschaften geimpft waren, die Kinder jedoch nicht. Also hat er einen gemeinsamen Impfdienst auf die Beine gestellt, der sich Transport und Kühlkette teilt.
In einem anderen Projekt konnten Zinsstag und seine Mitstreiter mit Hilfe eines mathematischen Modells beweisen, dass eine zunächst aufwendig erscheinende Massenimpfung der Straßenhunde gegen Tollwut kostengünstiger und wirksamer ist, als wenn einfach nur erkrankte Menschen behandelt und alle Hunde getötet werden. Das sind einfache Beispiele, die sich auf westliche Gesundheitssysteme übertragen lassen. "Eine Kooperation zwischen den beiden Disziplinen führt nicht nur zu mehr Gesundheit bei Mensch und Tier, sie spart auch noch viel Geld", sagt Zinsstag. Die Weltbank schätzt die möglichen Einsparungen durch One Health weltweit auf mindestens sechs Milliarden Dollar pro Jahr.
Antibiotika-Resistenzen entwickeln sich auch in den Ställen von Nutztieren
Auch in Europa gibt es Potenzial. So berichtet Zinsstag über einen Brucellose-Ausbruch in den Niederlanden vor einigen Jahren. Rinder und Schweine hatten die Infektionskrankheit auf Menschen übertragen. Die Humanärzte dort waren überhaupt nicht vorbereitet, obwohl die Veterinärmediziner schon längst Bescheid wussten.
Wenn jeder Gesundheitssektor in Echtzeit über das gesamte Vorkommen an meldepflichtigen Infektionskrankheiten informiert würde, könnten rascher Maßnahmen getroffen werden. "Ein weiterer Ansatz sind miteinander gekoppelte Krebsregister, da Auslöser sowohl Menschen wie Tiere betreffen und damit vielleicht schneller identifiziert werden könnten. So wissen wir, dass Heimtiere von Rauchern ebenso einem höheren Lungenkrebsrisiko ausgesetzt sind." Ähnlich hilfreich wär ein speziesübergreifende Register zu Antibiotikaresistenzen, die sich ja auch in Nutztierställen entwickeln.
Kanada hat One Health bislang am weitesten umgesetzt: Alle Untersuchungen von hoch ansteckenden Krankheiten bei Mensch und Tier werden in einem einzigen Labor durchgeführt. Das Gesundheitssystem hat eine einheitliche Überwachung für Antibiotikaresistenzen und Durchfallerreger bei Mensch und Tier aufgebaut.
Zinsstags Vision geht aber noch weiter: "Die Erhaltung der Gesundheit kann sich nicht nur auf Tiere und Menschen beschränken, sondern muss die Ökosysteme, also zum Beispiel Faktoren wie Luftverschmutzung, Klimaerwärmung und Bodenfruchtbarkeit miteinschließen." One Health sieht er nur als einen Teilbereich von EcoHealth, einer Art universalem Gesundheitssystem. "Alles hängt mit allem zusammen", sagt er. "Eigentlich wissen wir das doch schon längst."