Chorea Huntington:Die Last der Erbkrankheit

Chorea Huntington: Der 16-jährige Jakob hat die Krankheit Huntington von seiner Mutter geerbt.

Der 16-jährige Jakob hat die Krankheit Huntington von seiner Mutter geerbt.

(Foto: SZ)

Jakobs Mutter ist todkrank. Er weiß, dass die gleiche Nervenkrankheit eines Tages auch bei ihm ausbrechen wird. Wie geht das Leben weiter, wenn man sein Schicksal schon als Teenager kennt?

Von Elisabeth Gamperl und Sebastian Jannasch

Jakob* ist nicht zu bremsen. Nach der Schule fährt der 16-Jährige zum Kicken in den Park, seine Finger tippen ununterbrochen auf dem Smartphone, später fegt der Junge mit dem zarten Gesicht und den strohblonden Haaren mit seinem schwarzen Roller über die Landstraßen. Seine Freunde lädt er am Wochenende am liebsten zu sich nach Hause in eine Kleinstadt bei Köln ein. "Dann zocken wir bis in die Nacht an der Konsole oder zelten am Bach in der Nähe."

Was die meisten von Jakobs Freunden allerdings nicht wissen: Sein Leben wird nicht mehr lange so unbeschwert bleiben. In einigen Jahren muss er einen Kampf gegen seinen eigenen Körper führen. Und er wird ihn wohl verlieren. Denn auf Jakob lastet ein Erbe, das er vor keinem Nachlassgericht dieser Welt ausschlagen kann. Dabei geht es nicht um Schulden oder ein hypothekenbelastetes Haus. Es geht um das Nervenleiden Chorea Huntington.

Ist ein Elternteil betroffen, stehen die Chancen 50 zu 50

Ein Unfall, eine folgenreiche Verletzung, Krebs: Viele Menschen ereilt im Lauf ihres Lebens ein Schicksalsschlag. Doch eine Erkrankung wie die Chorea Huntington, die von Geburt an feststeht, lastet bis zu ihrem unbestimmten Ausbruch wie ein Fluch auf dem Betroffenen. Etwa 10 000 Menschen sind laut der Deutschen Huntington-Hilfe hierzulande von dem Leiden betroffen. Wer daran erkrankt, verliert nach und nach die Kontrolle über seine Bewegungen, sein Verhalten, seine Sprache. Schuld ist ein Gendefekt auf Chromosom 4. Die Nervenzellen sterben ab, das Gehirn verkümmert, 15 bis 20 Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit stirbt der Patient unweigerlich daran. Ist ein Elternteil betroffen, stehen die Chancen 50 zu 50, dass das Kind den Gendefekt erbt. Ein Test kann bei einem Verdacht Gewissheit geben. Es ist eine schreckliche Gewissheit, wenn er positiv ausfällt.

Alles nur geerbt

Erben ist schön. Erben ist ungerecht. Erben verpflichtet. Erben befreit. Nichts verändert Deutschland in den kommenden Jahren so stark wie die Milliarden, die von einer Generation an die nächste gehen. Was das Erben mit uns macht - ein Themenschwerpunkt der Volontäre der Süddeutschen Zeitung.

Wenn Jakob seine Mutter Bettina* ansieht, wirft er auch einen Blick in die eigene Zukunft. Sie leidet an der Huntington-Krankheit. Bettina, 38, ergrautes Haar, hat Mühe deutlich zu sprechen, ihre Zunge ist ihr im Weg. Vieles fällt ihr schwer, auch langes Laufen geht nicht mehr. Für die Strecke in die Stadt brauchte sie vor ein paar Jahren nur eine halbe Stunde. "Inzwischen dauert das eine Stunde", sagt sie. Vor der Tür ihrer Erdgeschosswohnung steht ein Rollator, ohne ihn schafft sie es nicht mehr zum nahe gelegenen Supermarkt. "Ich muss sie manchmal stützen, weil sie plötzlich anfängt zu schwanken", sagt Jakob. Die Einkaufsliste und die Entschuldigungen für die Schule schreibt er inzwischen selbst, weil seine Mutter die Hand beim Schreiben nicht mehr ruhig halten kann.

"Ein paar Jährchen habe ich ja noch."

Bei den meisten Betroffenen macht sich Huntington im Alter zwischen 30 und 50 Jahren bemerkbar. Bei Bettina ging es um die 30 los. Zuerst zuckten Beine und Hände unwillkürlich, ihr Gedächtnis ließ immer stärker nach, sie bekam depressive Schübe - ob als Teil der Krankheit oder Resultat der Diagnose, das wissen die Ärzte nicht. Alltägliches wie Anziehen und Kochen fiel ihr immer schwerer, ihren Job als Putzfrau musste sie bereits aufgeben. Irgendwann wird sie nicht mehr richtig schlucken können, viele Betroffene ersticken beim Essen. Bettina wird eine Rundum-Betreuung brauchen. "Ich weiß schon, in welches Heim ich gehe", sagt sie. "Aber ein paar Jährchen habe ich ja noch."

Einen so offenen Umgang mit der Krankheit gab es bei ihren Eltern und Großeltern nicht. "Damit wollte sich in meiner Familie niemand auseinandersetzen", erzählt Bettina. Obwohl schon die Großmutter an Huntington litt, wollte sich ihr Vater nicht damit beschäftigen - bis er selbst mit Ende 40 die Diagnose bekam. Von diesem Moment an wusste Bettina, dass auch sie betroffen sein könnte und ließ sich testen. "Positiv. Das war ein Schock", sagt sie, "damals hatte ich ja schon zwei Kinder." Jakob war sechs Jahre alt, seine Schwester sieben, sie ging schon in die Schule.

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