Kürzlich hat Heike Drechsler noch einmal einen Ausflug in die Berge gewagt. Nach zwei Kilometern begann das Knie zu schmerzen, dann die Füße und die Schulter. Sie musste umdrehen. "Wandern geht nicht mehr", sagt sie. Geht vielleicht nie wieder. Drechsler, 45, nicht mit der gleichnamigen Leichtathletin verwandt, hat Schmerzen, seit sie denken kann. Als Kind schon plagten sie Migräneanfälle. Wenn andere spielten, lag sie im dunklen Zimmer und "kotzte sich die Seele aus dem Leib". Später kamen diffuse Schmerzen an den Gelenken hinzu - und vom Orthopäden bis zum Zahnarzt Besuche bei Ärzten verschiedenster Fachrichtungen. "Eigentlich fast alle", sagt sie. Nur ein ausgewiesener Schmerzmediziner war nie dabei.
Drechsler sitzt in einem Gruppenraum im Schmerzzentrum am Klinikum Dachau, reibt sich das Knie, lächelt. Die Ärzte haben ihr wenig Hoffnung gemacht: Ihre Schmerzen werden wohl nie mehr verschwinden. Drechsler weiß das nun. Und es geht ihr trotzdem besser. "Es ist toll hier", sagt sie. "Alle haben Schmerzen, alle glauben dir."
Drechsler ist ein anpackender Typ, trägt die Haare kurz, die Füße stecken in rosa Turnschuhen. Sie spricht mit sächsischem "Slang" in der Stimme, der eine Heimat verrät, der sie sich lange entwachsen fühlt. Stabile Partnerschaft, Tochter, Beruf. Und immer Schmerzen, kribbelnde Knie, taube Finger. Erklären lässt sich das nicht so leicht. Einfach hinnehmen aber wollte sie das auch nicht, suchte immer weiter. Und bekam von vielen Medizinern Antworten, aber keine Hilfe.
Etwa sieben Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden an permanenten Schmerzen, die ihr Leben beeinträchtigen; die sie also zwingen, den Sport oder gar den Job aufzugeben. Muskel- und Gelenkschmerzen sind darunter, Operations-schmerzen, die einfach nicht mehr verschwinden und sehr viele geplagte Rücken.
Alte Menschen leiden häufiger an Schmerzen als junge; bei Menschen mit psychischen Problemen setzt sich der Schmerz eher dauerhaft im Körper fest. In einer älter werdenden Gesellschaft und einer hektischen, verdichteten Arbeitswelt nimmt die Zahl der Gepeinigten insgesamt zu. Seit einigen Jahren sind chronische Schmerzen als eigenständige Krankheit anerkannt. Die Patienten aber sind mit ihren Problemen oft noch sehr alleine.
Es fehlen Fachleute, die das Leiden umfassend behandeln, körperlich wie seelisch
Es gibt zu wenig Schmerzmediziner, das hat nun auch der Deutsche Ärztetag diese Woche bei seiner Sitzung in Düsseldorf beklagt. Es fehlen Fachleute, die den Schmerz umfassend behandeln, körperlich wie seelisch, die den Patienten helfen, mit ihrem Leiden umzugehen. Im Schnitt vergingen vier Jahre, bis die Patienten eine wirkungsvolle Behandlung erhielten, heißt es in einem Antrag der Ärzte. Das bedeutet Leid für die Kranken und Schaden für die Volkswirtschaft.
Rückenleiden etwa sind der häufigste Grund, warum Männer im Job fehlen, bei Frauen der zweithäufigste. Es müsse schon in Kliniken mehr gegen akute Schmerzen getan werden, damit diese sich gar nicht erst im Körper festsetzen, fordern die Ärzte. Außerdem bräuchten Schmerzpatienten schneller Hilfe; Hausärzte müssten chronische Schmerzen sicherer von anderen Zipperlein unterscheiden.
Die Standesvertreter schneiden damit ein sensibles Thema an. Schließlich haben sie selbst die Schmerzmedizin lange vernachlässigt. Erst im Jahr 2016 soll sie ein Pflichtfach im Studium werden. Anders als etwa in den USA gibt es hierzulande keinen Facharzt für dieses Gebiet. Die Zusatzqualifikation Schmerzmedizin kann jeder Facharzt erwerben, im Jahr 2012 führten diesen Titel etwa 4700 Mediziner, weniger als ein Drittel von ihnen aber sind echte Spezialisten, die sich hauptsächlich um Schmerzpatienten kümmern. Ohne Facharzt gibt es keine Regel für die Verteilung. Bei Gynäkologen und Zahnärzten ist genau festgelegt, wie viele Ärzte in jeder Region gebraucht werden, bei Schmerzmedizinern nicht.
Was es heißt, wenn einen unkundige Ärzte behandeln, kann Heike Drechsler ziemlich genau berichten. Sie hat über die Jahre vom Heilpraktiker bis zum Allergologen alle möglichen Doktoren konsultiert. Der HNO-Arzt etwa tippte - da Drechsler gerade auch verschupft war - auf Gliederschmerzen. Der Orthopäde deutete ihre steifen Finger als Zeichen für einen verengten Karpaltunnel, jener Röhre, in der die Nerven vom Unterarm zum Handgelenk verlaufen. Der Tunnel wurde in einer Operation an beiden Händen geöffnet. Das taube Gefühl blieb. Drechsler schüttelt die Hände, knetet ihre Finger. "Tippen am Computer kann ich oft nur mit zusammengebissenen Zähnen", sagt sie.
So geht es nicht nur Menschen mit vergleichsweise schwer zu erklärenden Leiden wie Drechsler, bei der man am Ende unheilbaren Faser-Muskel-Schmerz, die sogenannte Fibromyalgie, diagnostizierte. Auch Patienten mit Kreuzweh landen immer wieder auf dem OP-Tisch, obwohl vielen damit laut medizinischen Leitlinien nicht geholfen ist. Bei Patienten etwa, die zusätzlich an Depressionen leiden, bringt die Operation häufig nichts.
Denn Schmerzen haben in den seltensten Fällen allein körperliche Ursachen. In seinem Arztzimmer klopft Bernhard Arnold, Chefarzt des Dachauer Schmerzzentrums, energisch auf den Tisch, als wolle er diese Weisheit einhämmern. Als Beispiel erzählt er vom Gewicht des Kopfes, das auf die Wirbelsäule drücke. Jeder zweite Mensch über 60 habe deshalb verformte Halswirbel. Aber längst nicht jeder habe Schmerzen. "Es muss noch mehr Erklärungen geben", sagt Arnold. In seinem Zentrum bietet er die sogenannte multimodale Schmerztherapie an, einen Mix aus Medikamentenbehandlung, Gymnastik und Gespräch. Diese Therapie stellt selten die Schmerzen einfach ab, wohl aber das Leid.
Schmerzen entstehen im Kopf, lautet das Credo der Mediziner. Der Körper spürt ein Zwicken und meldet das als Alarmsignal ans Gehirn. Erst das Gehirn aber bewertet den Schmerz. Wenn Patienten lernen, diesen Reiz weniger wichtig zu nehmen, empfinden sie am Ende auch weniger Schmerzen. Das lässt sich messen. "60 Prozent unserer Patienten kehren an ihren Arbeitsplatz zurück", sagt Arnold. Er zieht Folien heraus, blättert in Studien, die belegen, dass die multimodale Therapie für bestimmte Patienten erfolgreicher ist und dazu für die Kassen billiger. Trotzdem hat sich die Zahl der Operationen am Rücken zuletzt mehr als verdoppelt.
Dass die Eingriffe nicht immer nötig sind, zeigen auch Erfahrungen der Techniker Krankenkasse, die ihren Versicherten vor einer Rücken-OP eine Zweitmeinung in einem Schmerzzentrum anbietet. 80 Prozent der Patienten verzichten hinterher auf die OP.
In Dachau ist Heike Drechsler mit den anderen Patienten am Nachmittag zwei Kilometer stramm marschiert. Als die Gruppe zurückkommt, glänzen die Gesichter vor Anstrengung. Drechsler stahlt. Und die Schmerzen? Drechsler muss kurz nachdenken: Doch, sagt sie dann, sie sind noch da. Aber das sei nicht mehr so wichtig: "Man darf dem Schmerz nie wieder so viel Raum geben."