Lungenkrankheiten:Wie Wissenschaftler das Asbest-Problem kleinrechnen

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Keine Entwarnung: Immer noch Gefahr durch Asbest

Keine Entwarnung: Arbeiter demontieren Asbestplatten auf den Dächern eines alten Garagenkomplexes.

(Foto: Bernd Wüstneck/Picture Alliance)

Bis heute haben Opfer des lebensgefährlichen Baustoffs Probleme, eine Entschädigung zu erhalten. Über zweifelhafte Verbindungen zwischen Forschung und Berufsgenossenschaften.

Von Christina Berndt und Johannes Ludwig

Dass Asbest richtig gefährlich ist, weiß heute jedes Kind. Selbst Denkmäler müssen weichen oder für Hunderte Millionen Euro saniert werden, wenn sie mit dem Mineral verseucht sind - so wie der 2006 abgerissene Palast der Republik mitten in Berlin.

Gesundheitsprobleme durch Asbest? Müssten die - wie der abtransportierte Schutt des "Palazzo Prozzo" - folglich nicht längst der Vergangenheit angehören? Schließlich wurde das faserige Material in der Bundesrepublik schon 1993 verboten. Tatsächlich aber machen sich die Folgen von Asbest derzeit besonders stark bemerkbar. Das krebserregende Mineral steckt weiterhin in Millionen Gebäuden, in die es wegen seiner Festigkeit, Leichtigkeit, Feuer-, Säure- und Hitzebeständigkeit jahrzehntelang mit Begeisterung eingebaut wurde.

Es sei in nahezu allen Gebäuden enthalten, die vor 1993 entstanden, berichtet die Bundesanstalt für Arbeitsschutz. Und es wirkt in den Körpern der Menschen fort, die einst mit dem staubigen Stoff hantierten und Abermillionen Fasern einatmeten. Bis zu 60 Jahre können vergehen, bis Asbest krank macht. Daher wächst die Zahl der jährlichen Asbesttoten immer weiter, 1600 zählte bereits die offizielle Statistik im Jahr 2017. Wie lange das noch weitergeht, weiß niemand. Tückisch für die Betroffenen: Sie kommen gerade wegen der langen Latenzzeit zwischen Belastung und Krankheit selten zu ihrem Recht.

Schließlich ist die Gefährlichkeit von Asbest seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt

Dabei hätten diejenigen, die durch ihre Arbeit krank wurden, einen Anspruch gegen ihre Berufsgenossenschaft (BG). Aber eine Rente oder Entschädigung erhalten die wenigsten. Und während die Anzeigen asbestbedingter Berufskrankheiten seit 20 Jahren in die Höhe schnellen, zuletzt waren es knapp 10 000, gehen immer mehr Menschen leer aus. Besonders extrem ist das beim "asbestverursachten Lungenkrebs": Dort ist die Anerkennungsrate von früher 90 Prozent auf zuletzt 16 Prozent gefallen.

Wie kann das sein? Schließlich ist die Gefährlichkeit von Asbest seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt. Doch gerade manche Wissenschaftler helfen bei der Ablehnung von Ansprüchen, wie Recherchen der SZ und der Plattform ansTageslicht.de zeigen. Bis heute würden Zweifel gestreut, wenn ein Arbeiter eine Berufskrankheit anmeldet, sagt Hans-Joachim Woitowitz, einer der wichtigsten Experten in Sachen Asbest.

Jahre nach seiner Emeritierung vom Lehrstuhl für Arbeitsmedizin an der Universität Gießen setzt er sich immer noch für die Opfer ein. Auch der Koordinator der aktuellen Leitlinie für Ärzte zu Asbesterkrankungen, der Arbeitsmediziner Xaver Baur, sagt: "Es kommt immer wieder zu wissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Ablehnungen." Dabei glichen die Abwehrstrategien denen der Tabakindustrie: Wissenschaftliche Erkenntnisse werden fehlgedeutet, Zweifel an Studien gestreut, die sozialpolitischen Gremien infiltriert, Forscher gesponsert.

"Für die Opfer der Asbestindustrie ist das unendlich hart", sagt Woitowitz. Die Genossenschaften ließen die Arbeiter im Stich. Wer zu prozessieren wagt, führt meist eine zermürbende Auseinandersetzung gegen oft voreingenommene und hoch bezahlte Gutachter. Das überlebt kaum ein Asbestkranker, denn die Leiden sind gnadenlos, oft genug sterben während der jahrelangen Streitigkeiten sogar die Hinterbliebenen.

Wie bei der Familie von Philipp Greb aus Hessen, die seit Jahrzehnten auf Entschädigung für den Tod des Vaters klagt. Greb flexte jahrelang Asbestzementplatten ("Eternit"), um Dächer damit zu decken. 1982 erhielt er die Diagnose Lungenkrebs, noch im selben Jahr starb er, 52 Jahre alt. Doch seiner Frau versagte die BG eine Witwenrente: Es sei nicht klar, wie viel Asbeststaub ihr Mann eingeatmet habe. Anna Greb klagte, aber auch sie starb 2008, bevor es zu einem Urteil kam. Das fiel erst im vergangenen Dezember - 36 Jahre nach dem Tod Grebs, in erster Instanz und zu Ungunsten seiner Familie. "Am Ende hat meine Mutter von gerade mal 250 Euro Rente leben müssen", sagt die Tochter Helga Schwab, "eine zusätzliche BG-Rente hätte ihr sehr geholfen."

Viele Betroffene sterben, bevor es zu einem Urteil kommt, bestätigt die Rechtsanwältin Miriam Battenstein, die Hunderte Prozesse zum Thema geführt hat. "Man kann den Eindruck haben, dass auf Zeit gespielt wird." Die BGs kämen den Kranken oft kein bisschen entgegen. Wenn ein Gutachten vorliege, das ihren Anspruch stützt, gingen sie weiter dagegen vor.

Insgesamt, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation, sind zehn Millionen Menschen dem "Magic Mineral" weltweit bereits zum Opfer gefallen. Die meisten haben eine Asbestose entwickelt, bei der die Lunge vernarbt ("Fibrose"), sodass das Atmen immer schwerer fällt. Am Ende ersticken die Patienten qualvoll. Oft führen die Asbestfasern aber auch zu Lungenkrebs oder zum besonders schnell tötenden Mesotheliom, bei dem Krebsherde im Bauch- oder Rippenfell entstehen.

Das gefährliche "Mineral der tausend Möglichkeiten"

Die meisten dieser Krankheitsfälle hätten sich verhindern lassen. Denn wie gefährlich Asbest ist, ahnten Wissenschaftler schon früh. Bereits 1899, keine 30 Jahre nach dem ersten industriellen Einsatz, beschrieb eine Gewerbeaufsichtsbeamtin der britischen Königin Victoria die "evil effects" von Asbest. Trotzdem dauerte es fast hundert Jahre, bis der Stoff in der Bundesrepublik umfassend verboten wurde. In der EU vergingen sogar weitere zwölf Jahre. Dabei hatte schon das Deutsche Reich Asbestose und den asbestbedingten Lungenkrebs als Berufskrankheit anerkannt.

Doch nach dem Krieg war das vergessen, mächtige Gegenspieler torpedierten die Verbreitung dieses Wissens, darunter der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, der heute Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) heißt. Es sei notwendig, "dass die Öffentlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach Möglichkeit nicht alarmiert wird", ist in einem internen Protokoll aus dem Mai 1970 zu lesen. Das Wundermineral wurde fürs Wirtschaftswunder gebraucht.

So gelangte das "Mineral der tausend Möglichkeiten" in Schiffe und Häuser, in Bremsen, Dichtungen, Bodenbeläge, Toaster, Backöfen, Schalter, es wurde sogar als Filtermaterial für Bier und Medikamente eingesetzt. Aber obgleich Firmen gut daran verdienten, dass sich Arbeiter für sie in den krebserregenden Staub warfen, halten die BGs heute bei der Entschädigung der Opfer das Geld zusammen.

Experten wie Woitowitz und Baur werfen den BGs und der DGUV vor, für die Anerkennung von Krankheitsfällen hohe Hürden zu schaffen, um zu sparen. Schon heute kosten die Asbestkranken das System jedes Jahr 600 Millionen Euro. Wären die Anerkennungsquoten so hoch wie in den 1980er-Jahren, wäre es leicht eine Milliarde mehr. Die DGUV betont, dass die Ablehnungen nichts mit Geld zu tun hätten: Die Zahl der anerkannten asbestbedingten Berufskrankheiten liege seit Langem bei rund 3700 pro Jahr. Neuerdings meldeten aber die Krankenkassen immer mehr Erkrankungsfälle "ohne qualifizierte Prüfung", diese würden zu Recht abgelehnt.

Nur: Wer führt dann die Prüfungen durch? Viel zu oft den BGs nahestehende Institutionen, beklagen Baur und Woitowitz. Es sei ein Skandal, dass die Anerkennung einer asbestbedingten Berufskrankheit weitgehend in den Händen der BGs und der DGUV liege. Denn eine zentrale Rolle bei der Untersuchung der Krankheitsursachen kommt dem Deutschen Mesotheliomregister in Bochum zu, wo jedes Jahr etwa 2400 Patienten mit Verdacht auf eine asbestbedingte Erkrankung getestet werden. Das Register wurde einst von einer BG gegründet. Damit habe die DGUV quasi ein Monopol, kritisiert Baur.

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