Die Kindheit schmeckt für Traudi Eichler nach Hackfleischsoße. Nach einer braunen Tunke aus Zwiebeln und gebratenem Mett, die auf dem Teller einen See bildet, in dem die Kartoffeln schwimmen. Beamtenstippe nannten sie das in ihrem Heimatort in Sachsen-Anhalt, wo das Gericht immer samstags auf den Tisch kam. Sie würde gerne wieder einmal Beamtenstippe essen, verriet Eichler dem Koch des Maria-Martha-Stifts. Eine Woche später stand die Soße in Lindau auf dem Speiseplan. "Wo kriegen Sie so was sonst?", fragt Eichler.
Sehr wenige Seniorenheime in Deutschland bieten den Menschen, was im Maria-Martha-Stift inzwischen selbstverständlich ist. Anfangs durften die Bewohner nur Vorschläge für den Speiseplan machen, inzwischen schreiben sie ihn selbst. Die Küche bringt die Ideen nur noch in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge.
Die Küche ist Teil des Konzepts, das das Lindauer Heim verfolgt, das man durchaus revolutionär nennen darf. Schließlcih stellt es die in der Altenpflege gültigen Gesetze auf den Kopf. "Wir wollen weg von der klinisch geprägten Altenpflege, in der sich die Bewohner in ihren Zimmern langweilen, während die Pfleger umher hetzen", sagt Anke Franke, Leiterin des Heims und damit sozusagen die Revolutionsführerin.
In Lindau arbeitet man nach der Philosophie der amerikanischen Eden-Alternative, die die Hauptübel des Alters in Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit sieht. Gefühle, die man in Lindau gar nicht erst aufkommen lassen will. Die Bewohner sollen hier Verantwortung übernehmen - für sich und für einander. Das Maria-Martha-Stift ist ein Mitmach-Heim.
Mittagessen im Speisesaal des Stifts. Hier essen die rüstigen Bewohner, die noch alleine zurechtkommen. An einigen Tischen sitzen Herrschaften im Rollstuhl. Es sind körperlich behinderte Bewohner, die aber geistig fit sind und darum nicht oben auf den Stationen mit den Demenzkranken essen wollen. Seit einiger Zeit helfen nun andere Bewohner und Pfleger, sie nach unten in den Saal zu schieben. Das gibt zwar Stau an den Aufzügen. "Das geht nicht", aber ist ein Satz, den Heimleiterin Franke nicht hören mag.
Die Bewohner in Lindau haben tausend liebenswerte Kleinigkeiten durchgesetzt. Dass es zum Abendbrot nicht nur Früchtetee gibt zum Beispiel, sondern auch Wein und Bier. Und dass bei gutem Wetter im Garten gegessen wird, zur WM auch mit großem Fernseher. "Manchmal sitzen wir dann noch lange draußen", erzählt Traudi Eichler.
Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, im Alter in ein Heim zu ziehen. Wenn es aber sein muss, dann sollte es eines wie Lindau sein. Traudi Eichler und ihr Mann Wolfgang sind freiwillig hier eingezogen, als ihr "Turmzimmer" frei wurde, eine Zweizimmerwohnung mit Blick auf den Bodensee.