Süddeutsche Zeitung

Altenpflege:Wunschmenü im Mitmach-Heim

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Die Senioren langweilen sich, während die Pfleger durch die Gegend hetzen: Was in den meisten Altersheimen Alltag ist, wird in Lindau auf den Kopf gestellt. Hier übernehmen die Pflegebedürftigen selbst Verantwortung.

Von Nina von Hardenberg

Die Kindheit schmeckt für Traudi Eichler nach Hackfleischsoße. Nach einer braunen Tunke aus Zwiebeln und gebratenem Mett, die auf dem Teller einen See bildet, in dem die Kartoffeln schwimmen. Beamtenstippe nannten sie das in ihrem Heimatort in Sachsen-Anhalt, wo das Gericht immer samstags auf den Tisch kam. Sie würde gerne wieder einmal Beamtenstippe essen, verriet Eichler dem Koch des Maria-Martha-Stifts. Eine Woche später stand die Soße in Lindau auf dem Speiseplan. "Wo kriegen Sie so was sonst?", fragt Eichler.

Sehr wenige Seniorenheime in Deutschland bieten den Menschen, was im Maria-Martha-Stift inzwischen selbstverständlich ist. Anfangs durften die Bewohner nur Vorschläge für den Speiseplan machen, inzwischen schreiben sie ihn selbst. Die Küche bringt die Ideen nur noch in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge.

Die Küche ist Teil des Konzepts, das das Lindauer Heim verfolgt, das man durchaus revolutionär nennen darf. Schließlcih stellt es die in der Altenpflege gültigen Gesetze auf den Kopf. "Wir wollen weg von der klinisch geprägten Altenpflege, in der sich die Bewohner in ihren Zimmern langweilen, während die Pfleger umher hetzen", sagt Anke Franke, Leiterin des Heims und damit sozusagen die Revolutionsführerin.

In Lindau arbeitet man nach der Philosophie der amerikanischen Eden-Alternative, die die Hauptübel des Alters in Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit sieht. Gefühle, die man in Lindau gar nicht erst aufkommen lassen will. Die Bewohner sollen hier Verantwortung übernehmen - für sich und für einander. Das Maria-Martha-Stift ist ein Mitmach-Heim.

Mittagessen im Speisesaal des Stifts. Hier essen die rüstigen Bewohner, die noch alleine zurechtkommen. An einigen Tischen sitzen Herrschaften im Rollstuhl. Es sind körperlich behinderte Bewohner, die aber geistig fit sind und darum nicht oben auf den Stationen mit den Demenzkranken essen wollen. Seit einiger Zeit helfen nun andere Bewohner und Pfleger, sie nach unten in den Saal zu schieben. Das gibt zwar Stau an den Aufzügen. "Das geht nicht", aber ist ein Satz, den Heimleiterin Franke nicht hören mag.

Die Bewohner in Lindau haben tausend liebenswerte Kleinigkeiten durchgesetzt. Dass es zum Abendbrot nicht nur Früchtetee gibt zum Beispiel, sondern auch Wein und Bier. Und dass bei gutem Wetter im Garten gegessen wird, zur WM auch mit großem Fernseher. "Manchmal sitzen wir dann noch lange draußen", erzählt Traudi Eichler.

Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, im Alter in ein Heim zu ziehen. Wenn es aber sein muss, dann sollte es eines wie Lindau sein. Traudi Eichler und ihr Mann Wolfgang sind freiwillig hier eingezogen, als ihr "Turmzimmer" frei wurde, eine Zweizimmerwohnung mit Blick auf den Bodensee.

Wolfgang Eichler ist wohl der ideale Bewohner für das Mitmach-Heim. Er hat früher als Tourismus-Manager gearbeitet, hat mehr als fünfzig Mal Venedig besucht und Tausende Fotos gemacht. Die zeigt er jetzt in "Eichlers Filmstudio hinter der blauen Tür", wie auf dem Plakat steht, das ein Rezeptionist für ihn entworfen hat. Vor allem die Demenzkranken lieben seine Vorführungen. "'Wann gibt es wieder Bilder?', fragen die immer", erzählt Eichler geschmeichelt.

Im Speisesaal sitzt er mit seiner Frau Traudi und zwei anderen weißhaarigen Damen an ihrem Stammtisch am Fenster. Den Damen wird zuerst serviert, dafür lässt der Koch Herrn Eichler einen Teller mit zwei Würsten bringen. Zum Dank grüßt der Alte quer durch den Raum. Der Koch weiß um die Vorlieben der Bewohner, denn Heimleiterin Franke hat eine Saftpresse gekauft und die Köche gebeten, damit durch die Flure zu gehen und Saft auszuschenken, damit sie die Bewohner kennenlernen.

Mitmach-Heim - das gilt in Lindau eben auch für das Personal. Vom Koch bis zur Putzfrau sind hier alle Mitarbeiter im Umgang mit Demenzkranken geschult und tauschen sich bei regelmäßigen Treffen über die Bewohner aus.

Das Konzept macht die Versorgung teurer. So treiben die zusätzlichen Getränke die Kosten des Abendessens in die Höhe. Das Maria-Martha-Stift ist trotzdem profitabel und dabei insgesamt erschwinglich. Grund ist sein guter Ruf. Während die Branche über Personalnot klagt, habe sie seit zwei Jahren keine einzige Jobanzeige mehr schalten müssen, berichtet Franke. Die Mitarbeiter sind auch selten krank. Und das Heim ist ausgebucht. Es gibt eine lange Warteliste.

Plätze aber werden nur frei, wenn ein Bewohner stirbt. Oder wenn das Heim einen Demenzkranken, der immer wieder wegläuft, in eine geschlossene Einrichtung überweisen muss. Letzteres macht Franke zu schaffen. Wenn Bewohner weglaufen, ist das Heim mit seinen stets offenen Türen für sie nicht sicher, das Konzept stößt an seine Grenzen. Erst kürzlich mussten sie einen Mann von einer Bodensee-Fähre abholen. Franke veranlasste seine Verlegung. "Das war für uns alle furchtbar", sagt sie. Denn den Kranken gehe es in den geschlossenen Heimen selten gut.

Im Speisesaal angelt Wolfgang Eichler Maggisoße und Chilipulver von der Fensterbank, bestreut Wurst, Möhrengemüse und Kartoffelpüree. Die Menüs sind weniger abwechslungsreich, seit die Alten selbst bestimmen. Da ist der Koch froh, wenn ein Bewohner mal mit einem Rezept aus der Fernsehzeitschrift ankommt. Hühnerbrüste mit Fetakäse habe sie vorgeschlagen, berichtet Traudi Eichlers Tischnachbarin stolz. Auch das habe der Koch gezaubert. "Ist doch wie im Fünf-Sterne-Restaurant", findet Eichler.

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