Neue Versicherungsverträge:Was Unisex-Tarife wirklich bedeuten

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Frauen und Männer sollen für Versicherungen bald einheitliche Beiträge zahlen. In einem Jahr treten die sogenannten Unisex-Tarife in Kraft, so hat es der Europäische Gerichtshof entschieden. Welche Konsequenzen das hat, ist bislang aber völlig unklar. Jetzt skizziert ein EU-Papier erstmals Details. Eine wichtige Erkenntnis: Die Änderungen greifen nur bei neuen Verträgen.

Alina Fichter

Nach der Revolution legte sich ein Nebelschleier über das Land. Monatelang wusste keiner der Tausenden Versicherer in der EU, wo genau das Ziel war, auf das sie von nun an alle zuzusteuern hatten, das Unisex-Urteil wollte es so. Bis jetzt. Viviane Reding, Justizkommissarin der Europäischen Union, hat eine erste Taschenlampe angeknipst. Der Lichtkegel, zugegeben, ein schwacher, lässt die Umrisse der neuen Welt für Versicherungstarife allmählich erkennbar werden, dank eines Leitlinien-Papiers, das Reding kürzlich vorlegte.

Gleicher Tarif für Frauen und Männer - so will es das Unisex-Urteil des EuGH. (Foto: dapd)

Die Revolution, das war eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes im März 2011, die alle Unternehmen zwingt, ab Dezember kommenden Jahres einheitliche Tarife für Männer und Frauen anzubieten. Das stelle Versicherungsprinzip und Geschäftsgrundlage in Frage, hieß es daraufhin bei den Gesellschaften.

Tatsächlich gilt derzeit Versicherern das Geschlecht als sogenannter Risikofaktor, der den Preis der Policen maßgeblich bestimmt. Für private Rentenversicherungen ohne Todesfallschutz etwa zahlen Frauen deutlich höhere Beiträge als Männer, weil sie laut Statistik länger leben und die Unternehmen daher teurer kommen. "Diskriminierend", findet der EuGH das und entschied im März: Schluss damit!

Das Test-Achats-Urteil (C-236/09) des Gerichtshofs hat Auswirkungen auf alle Versicherer und Versicherte in sämtlichen Mitgliedstaaten. Tausende Tarife müssen neu berechnet werden, nicht nur für Lebens-, und Rentenpolicen; auch Kranken-, Berufsunfähigkeits- und Autoversicherungen sind betroffen. Das Problem: Die EuGH-Entscheidung war so vage formuliert, dass Fragen über ihre Folgen offen blieben. Bis Reding ihr Papier veröffentlichte, das für eine einheitliche Umsetzung des Urteils in den EU-Staaten sorgen und Orientierung bieten soll.

Endlich ist damit ein zentraler Punkt, der Verunsicherung ausgelöst hatte, geklärt: Unisex-Tarife müssen laut Redings Papier nur für Verträge angeboten werden, die nach dem vom EuGH vorgegebenen Stichtag, dem 21. Dezember 2012, abgeschlossen werden. Für Bestandskunden ändert sich nichts.

Die Entscheidung, dass nur Neuverträge betroffen sind, ist logisch und folgerichtig", sagt Jürgen Basedow, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg. Bei privaten Krankenversicherungen etwa seien Tarife und Altersrückstellungen häufig auf eine Versicherungsdauer von 20, 30 oder noch mehr Jahren berechnet: "Alte Verträge anzugreifen, wäre enorm aufwendig."

Die Frage, was sinnvoll ist, spaltet allerdings die Versicherungsbranche. So hatte Roland Weber, Chef des größten Krankenversicherers Debeka, für eine Einbeziehung der Bestandskunden plädiert. Andernfalls könnten bereits versicherte Frauen reihenweise in die neuen Unisex-Tarife wechseln, weil diese für sie wohl etwas günstiger werden (bisher zahlen sie im Vergleich zu Männern drauf); so eine Massenbewegung im Bestand erschwert aber die Tarifkalkulation erheblich.

Justizkommissarin Reding beendet mit ihrem Papier den Streit - und gibt zudem genau vor, ab wann ein Vertrag überhaupt neu ist: Eine bestehende Versicherung, die ab Ende Dezember 2012 verändert wird, muss demnach in eine Unisex-Police verwandelt werden. Wird der Vertrag hingegen automatisch verlängert, weil der Kunde vergaß zu kündigen, ändert sich an seinen Bedingungen nichts.

Reding klärt zudem, was auch später noch zulässig sein wird. Männer dürfen zwar künftig bei Autopolicen nicht draufzahlen, nur weil sie Männer sind und laut Statistik mehr Unfälle bauen. Versicherer können aber mehr von all jenen verlangen, die PS-starke Autos fahren: Meistens sind das Männer. Ähnlich ist es bei privaten Krankenversicherungen; nach Geschlecht darf nicht mehr unterschieden werden, wohl aber nach Taillen- und Hüftumfang - weil dies Rückschlüsse auf das Risiko der Fettleibigkeit eines Menschen zulasse; auch können weiterhin geschlechtsspezifische Versicherungsprodukte angeboten werden, etwa für Prostata- oder Gebärmutterkrebs.

Das Unisex-Urteil dürfte, sobald es Ende 2012 umgesetzt ist, die Preise neuer Tarife aller Versicherungen im Vergleich zu den alten deutlich verändern. Für Frauen werden Berufsunfähigkeitsversicherungen, private Rentenversicherungen ohne Todesfallschutz und Krankenpolicen wohl günstiger, Männer sparen bei Auto- und Risikolebensversicherung. "Es ist zudem gut möglich, dass Unisex-Policen insgesamt teurer sein werden als alte Verträge", sagt Experte Basedow.

Der Grund: Versicherer könnten künftig einen zusätzlichen Risikopuffer in ihre Kalkulation einbauen, etwa weil sie fürchten, dass bald deutlich weniger Männer als Frauen private Rentenversicherungen ohne Todesfallschutz bei ihnen abschließen wollen; durch das plötzliche Ungleichgewicht der Geschlechter, das dadurch entstünde, liefen die Konzerne Gefahr, weniger Prämien einzunehmen. Den Risikopuffer würden sie wohl auf ihre Kunden abwälzen - durch höhere Preise: "Wir fürchten, dass sich die Versicherer einen zusätzlichen Schluck aus der Pulle genehmigen", sagt Lars Gatschke vom Bundesverband der Verbraucherzentralen.

Erste Studien belegen das Risiko von durchschnittlich höheren Beiträgen bei Unisex. Oxera, ein britisches Beratungsunternehmen, hat im Auftrag des Europäischen Versicherungsverbands (CEA) mit Hilfe von Daten aus sieben EU-Staaten errechnet, dass die Beiträge für Risikolebensversicherungen für Frauen um 34 Prozent steigen werden - während sie für Männer nur um 12 Prozent sinken. "Die Studie zeigt, dass die Pflicht zu geschlechtsneutralen Tarifen eine Vielzahl ungewünschter Nebenwirkungen haben kann", sagte Michaela Koller, Generaldirektor des Europäischen Versicherungsverbands (CEA).

Ob es wirklich so weit kommt, bleibt abzuwarten. Erstmal müssen die Regierungen das Urteil in nationales Recht übersetzen. Dann, so hofft man beim Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), wären auch die letzten offenen Fragen geklärt. Manche Versicherer fürchten nämlich, dass Unisex-Tarife nur der erste Schritt sind - und dass ihnen bald verboten werden könnte, Beiträge nach Behinderung und Alter zu unterscheiden.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels war von "Kapitallebensversicherungen" die Rede, es muss aber "private Rentenversicherungen ohne Todesfallschutz" heißen.

© SZ vom 30.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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