Japan:Verlassen und verlottert

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Tokio zwischen Tradition und Moderne: Eine junge Frau kutschiert ihren Roboter an heruntergekommenen Wohnhäusern vorbei. (Foto: F. Robichon/dpa)

In dem Land stehen immer mehr Immobilien leer. Das liegt auch an den Vorstellungen vieler Eigentümer und Mieter: Sie halten gebrauchte Wohnungen für minderwertig.

Von Christoph Neidhart

Jedes siebte Wohnhaus in Japan steht leer, viele Immobilien verfallen. Die meisten von ihnen sind Einfamilienhäuser. Die Bewohner sind gestorben, die Erben können sich nicht einigen und leben längst woanders - meist in einer Stadt. Doch auch in den Großstädten bleiben zahllose Häuser über Jahre ungenutzt. Viele Hausbesitzer lassen ein Gebäude leer stehen, weil sie damit viel Geld sparen. Unbebaute Grundstücke werden um ein Vielfaches höher besteuert als bebaute, und der Abbruch eines Eigenheims kostet etwa 100 000 Euro. Bis zum Jahr 2030, so eine Schätzung, könnte deshalb ein Drittel von Japans Wohnhäusern leer stehen.

Es gibt nicht nur verlassene Eigenheime, sondern auch Schulhäuser, buddhistische Tempel und Shinto-Schreine, deren Priester gestorben sind, die einfach vermodern. Und sogar Wohnblocks oder ganze Danchi, so nennen die Japaner ihre Überbauungen aus den Boomjahren, vor allem jene, die der Staat oder Unternehmen als Personalunterkünfte gebaut haben.

Verlassene Häuser gelten als feuergefährlich, in den Bergen und entlang der See von Japan drückt zudem der Schnee ihre Dächer ein. Der Wind reißt Ziegel oder Dachsparren mit, das gefährdet Passanten und Nachbarn. Gebüsche wuchern. Außerdem werden Akiya, wie die leeren Häuser genannt werden, gelegentlich geplündert. Und viele Nachbarn fürchten, unerwünschte Bewohner könnten in ihnen unterkommen: Obdachlose oder Ratten.

Um das Steuer-Schlupfloch zu stopfen, hat Japan vor drei Jahren ein Gesetz eingeführt, das es den lokalen Behörden erlaubt, die Besitzer leer stehender Häuser zum Abbruch zu zwingen. Aber in vielen Fällen ist gar nicht geklärt, wem ein Haus gehört. Eine Ärztin in einer westjapanischen Kleinstadt, die unweit von ihrem leer stehenden Elternhaus lebt, sagt, seither gehe sie abends einfach ab und zu ein paar Lichter einschalten. Ein zweites Gesetz, das im April verabschiedet wurde, fordert die lokalen Behörden auf, länger leer stehende Häuser in einer "Akiya-Datenbank" zu registrieren, damit sie renoviert und armen Leuten, die keine Sozialwohnung erhalten, für etwa 350 Euro monatlich zur Miete angeboten werden können. Vor allem Alten, Behinderten und Ausländern.

Ist ein Gebäude 25 Jahre alt, gilt es als wertlos. Käufer zahlen dann nur noch den Grundstückspreis

Nach einer Erhebung des Immobilienverwalter-Verbandes sagen 60 Prozent der Vermieter - meist Agenturen, die vom Hausbesitzer zwischengeschaltet werden -, sie wollen keine Sozialhilfe-Empfänger als Mieter. 68 Prozent vermieten nicht an Behinderte, 61 Prozent nicht an Ausländer und 60 Prozent nicht an Senioren. Eine Finanzierung, um ein Haus zu kaufen, erhalten solche Leute erst recht nicht. Wer keine Festanstellung vorweisen kann oder bald in Rente geht, gilt als kreditunwürdig. Zur Ablehnung der Alten sagen die Vermieter, oft hätten diese keine Bürgen, und sie könnten ja in der Wohnung sterben. Wenn sie keine Angehörigen hätten, müsste sich womöglich der Vermieter um die Beerdigung und ihre Sachen kümmern. Zudem sei es schwierig, eine Wohnung weiterzuvermieten, in der jemand gestorben sei.

Wohnblocks stehen aus ähnlichen Gründen leer wie Eigenheime. Vergammeln lassen ist oft die billigste Lösung. In den 1970er- und 80er-Jahren bauten viele Unternehmen einfache Unterkünfte für ihr Personal. An manchen ist bis heute das Firmenlogo zu sehen. Jenes der Sicherheitsfirma Secom zum Beispiel prangte lange am verlassenen Danchi "Asagaya" in Chitose-Karasuyama in Tokios beliebtem Stadtteil Setagaya. Die Siedlung stand jahrelang leer, bis sie vor drei Jahren einem Neubau weichen musste.

Nach dem Platzen der Immobilienblase 1990 brauchten viele Unternehmen ihre meist schlecht gebauten Wohnblocks für ihre Leute nicht mehr, vermieten war zu aufwendig, abreißen auch. Also wurden die Bauten eingezäunt und verrammelt. Viele gammeln seitdem vor sich hin. Brauchte man doch wieder Personalunterkünfte, dann war es oft billiger, diese an der Peripherie zu bauen.

Die meisten Japaner wollen nicht in ein Einfamilienhaus einziehen, in dem schon jemand gewohnt hat. Gebraucht ist hier beinahe ein Synonym für schmutzig. Nur bei luxuriösen modernen Mietwohnungen, den "Mansions", sind sie nicht ganz so streng, zumal diese als "unjapanisches Wohnen" gelten. Aber selbst dort wird versucht, Gebrauchtes zu meiden. Ist ein Gebäude mehr als 25 Jahre alt, gilt es als wertlos, zumal die Bauqualität meist schlecht ist. Deshalb muss ein Käufer dann nur noch den Grundstückspreis zahlen.

Fragt man Japaner, warum ihre Häuser so schlecht gebaut sind, erklären sie das gerne mit der Nachkriegszeit, in der das Land rasch wiederaufgebaut werden musste. Aber das ist 70 Jahre her. Andere begründen es mit den hohen Grundstückspreisen. Wenn die Eigentümer den Boden gekauft haben, hätten sie kein Geld mehr für einen Qualitätsbau. Eine dritte Erklärung lautet, ein hoher Aufwand lohne sich nicht, die Japaner würden nach einiger Zeit - im Jahre 2000 nach durchschnittlich 27 Jahren - ohnehin neu bauen wollen.

Unternehmen nehmen für sich in Anspruch, wirtschaftlich zu denken. Sofern das Gesetz dies erlaubt und es die einfachste und kostengünstigste Variante zu sein scheint, lassen sie ihre Akiya-Danchis vergammeln. Verwunderlicher ist jedoch, dass die japanische Armee das mit Unterkünften auch tut. Und sogar die Regierung: In Kami-Yoga, ebenfalls in Setagaya, verrottet in bester Lage - einen Steinwurf vom Pferdepark entfernt, der als Wettkampfstätte für einige Reit-Wettbewerbe der Olympischen Spiele 2020 vorgesehen ist - eine Siedlung mit 380 Wohnungen. Sie gehört dem Finanzministerium, einst wohnten hier Beamte. Die Zufahrten sind notdürftig mit Seilen versperrt, überall stehen Verbotsschilder, in den Innenhöfe wuchert Gestrüpp, da und dort liegt Müll. Die Fenster der Erdgeschosswohnungen sind mit Spanplatten verrammelt, aber es wäre ein Leichtes, in die Häuser einzudringen. Angeblich soll hier ein Park entstehen, aber das heißt es schon lange. Wenn die Regierung ihre eigenen Gesetze ernst nehmen würde, müsste sie dieses Danchi Alten, armen Familien und Behinderten zugänglich machen. Japan ist zwar kein Do-it-yourself-Land, aber sicherlich fänden sich Leute, die für eine günstige Miete selbst renovieren würden. Und sei es nur für ein paar Jahre. Stattdessen lässt die Regierung das Akiya-Danchi auf diesem Filetgrundstück verwahrlosen und beunruhigt damit die Nachbarschaft.

© SZ vom 14.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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