Barrierefrei bauen:Grünes Band für jedes Alter

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Erholungsflächen so zu gestalten, dass sie für Menschen mit körperlichen Einschränkungen geeignet sind, ist eine Herausforderung. Der Münchner Petuelpark dient als Vorbild.

Von Oliver Herwig

Mehmet A. sitzt neben seiner Lieblingsbank, die blaue Fleecejacke halb geöffnet, kurze graue Haare, einen Zigarillo in der Hand. Endlich scheint wieder die Sonne. Er genieße den Frühling, sagt der Rentner, der sich auf seinem Rollator niedergelassen hat. Von hier hat er alles im Blick: die Radfahrer, die an ihm vorbeiziehen, die Mütter mit Kinderwagen, die Fußballakrobaten, die sich neben den wellenförmigen Sitzlandschaften den Ball zukicken, die Sonnenanbeter und die Rollstuhlfahrer. Manche flitzen in ihren Elektrorollstühlen nur so dahin auf den schnurgeraden Wegen. Sie kommen von der nahe gelegenen Stiftung Pfennigparade herauf. Diese betreibt verschiedene Einrichtungen für körperbehinderte Menschen, unter anderem Schulen.

Der Petuelpark ist für alle da. Er verbindet die Stadtteile Schwabing und Milbertshofen als grünes Band über dem Mittleren Ring. 7,4 Hektar Erholungsraum mit Spielplätzen, schattigen Baumgruppen, Nachbarschaftsgärten und sogar einem eigenen Café. Bekannt wurde er als Kunstmeile des Künstlerkurators Stephan Huber. Doch längst ist der urbane Park, der vor gut zehn Jahren eröffnet wurde, zu einer Adresse für Stadtplaner, Kommunalpolitiker und Landschaftsarchitekten geworden: Sie wollen sehen, was eine gelungene barrierefreie Grünzone ausmacht. Der Mittlere Ring führt nun zwischen Belgrad- und Leopoldstraße in den Tunnel, wobei sich der Park ungefähr drei Meter über dem Niveau des umgebenden Geländes erhebt. "Dieser Höhensprung ermöglicht die Inszenierung des Parks auf zwei Ebenen", erklärt die Münchner Landschaftsarchitektin Stefanie Jühling. "Vom Straßenniveau aus führen breite Rasenstufen nach oben, begleitet von Eibenhecken und Birken, den Blick auf die obere Parkebene." Dort liegt die Promenade mit ihren schnurgeraden Wegen, nach Süden, unterhalb einer Stützmauer, befindet sich eine geschützte Zone mit Bänken und Pergolen. Beide Ebenen verbinden breite Rasenstufen und flache Rampen, die weit unter dem vorgeschriebenen Neigungswinkel von sechs Prozent liegen. Radfahrer, Kleinkinder, Männer und Frauen mit Kinderwagen, Senioren mit Rollatoren und Rollstuhlfahrer lieben den breiten Weg, auf dem sie bequem zur Promenade wechseln können. Mit Sand gestaltete Wege sind durch Betoneinfassungen klar vom Grün abgegrenzt.

Bei einem Seminar bewegten sich Architekten mit dem Rollator und griffen zum Langstock

Der Hauptsitz der Münchner Pfennigparade liegt direkt neben dem Mittleren Ring - da ist es höchst praktisch für die Schüler, dass sie mit dem Rollstuhl von einer Seite des Parks zur anderen wechseln können, ohne dabei eine Straße überqueren zu müssen. Erstaunt waren Stefanie Jühling und ihr Kollege, der Landschaftsplaner Otto Bertram, was sechs Prozent Steigung für Menschen bedeutet, die sich mit der Kraft ihrer Arme nach oben arbeiten müssen. Sechs Prozent, das klingt erst einmal harmlos. Das sind gerade sechs Zentimeter auf einen Meter. Für eine Stufe von 20 Zentimetern bräuchte man aber bereits mehr als drei Meter Rampe. Viel Platz. Und der ist nicht immer da.

Die Planer des Petuelparks haben besonders auf die Wünsche von Menschen mit körperlichen Einschränkungen geachtet. (Foto: Jühling & Bertram)

Barrierefreiheit braucht Extra-Platz, ist aber keine Extrawurst, wenn es nach der DIN 18040, Teil drei, geht. Sie regelt die "Grundlagen für die Planung, Ausführung und Ausstattung von barrierefreien Verkehrs- und Außenanlagen im öffentlich zugänglichen Verkehrs- und Freiraum". Also mithin so ziemlich alles, was uns von Haustür zu Haustür begegnet. Doch was heißt das konkret? Die Norm zielt darauf, eine Welt für die offene Gesellschaft zu schaffen, mit möglichst wenigen Treppen, Schwellen und Kanten, dafür mit klaren Kontrasten, Leitlinien und Orientierungspunkten. Zu schnell wird Barrierefreiheit gleichgesetzt mit schwellenfrei, ohne an Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung oder mit kognitiven Einschränkungen sowie an chronisch Kranke wie Diabetiker oder Rheumatiker zu denken. Die Autoren des nützlichen Standardwerks "Barrierefreies Bauen" - Oliver Heiss, Christine Degenhart und Johann Ebe - beschreiben die Lage wie folgt: "Angesichts der demografischen Faktoren und der stetig steigenden Lebenserwartung sowie der somit auch zunehmenden Anzahl schwerbehinderter Menschen ergeben sich für den öffentlichen Raum weitreichende Verpflichtungen." Gemeint ist die Arbeit der Stadtplaner, Ingenieure und Architekten. Sie müssen "Freiflächen so anlegen, dass ältere Menschen und Personen mit Behinderungen diese selbständig und problemlos benutzen können", heißt es in dem Fachbuch. Leichter gesagt als getan.

Barrieren gibt es genug in dieser Welt - sie entstehen oft situativ, wenn man mit einem Rollkoffer unterwegs ist, mit einem verstauchten Zeh, oder Pfennigabsätzen, die im grob verlegten Kopfsteinpflaster hängen bleiben. Es ist nicht leicht, die Bedürfnisse verschiedener Gruppen unter einen Hut zu bekommen, gerade dort, wo auf engstem Raum unterschiedliche Kulturen und Altersgruppen aufeinandertreffen.

Barrierefreiheit dient der Inklusion. Aber nicht alle Normen lassen sich aufeinander abstimmen. Eine Kante, die fast blinden Langstockgängern als Orientierung dient, kann für Nutzer von Rollatoren zum Hindernis werden. Auch wenn es den idealen öffentlichen Raum nicht gibt: "Es muss funktionieren, weitgehend allen Menschen dessen Nutzung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe möglich zu machen", fordern die Architekten Heiss, Degenhart und Ebe.

An Bahnhöfen sind weiße Noppenfelder bereits Standard. Sie helfen bei der Orientierung

In der Regel sind Straßen, Wege und Verkehrsflächen eben nicht eben. Wer mit einem Kinderwagen unterwegs ist, weiß, wie schräg das Trottoir angelegt ist. Ständig kippt der Wagen Richtung Straße. Was eigentlich dafür gedacht ist, dass Regenwasser besser abfließt, geht richtig ins Handgelenk. Wie mag es sein, mit einem Rollator oder gar einem Rollstuhl unterwegs zu sein? Im Sommer vergangenen Jahres probte eine Gruppe von Landschaftsarchitekten bei einem mehrtägigen Seminar zum Thema Barrierefreiheit in Konstanz genau das: Sie stülpten sich Schweißerbrillen über, gingen am Langstock, tasteten sich durch die nun fremde Umwelt - auch im Rollstuhl.

Es fühlt sich an, wie laufen lernen, resümiert ein Teilnehmer. Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich in der Welt fortbewegt, ist weg. Der Rollstuhl wirkt leichtgängig - auf ebenem, befestigtem Grund. Mit etwas Übung gelingt sogar eine Wende auf der Stelle. Linke Hand nach vorne bewegen, rechte zurück. Nach einiger Zeit stellt sich eine trügerische Sicherheit ein.

Trotz allem: Jetzt bloß keine Stufe. Hoffentlich gibt es eine Rampe, irgendwo. Wer erst einmal einen Blick für andere Welten gewonnen hat, erkennt immer mehr Hilfen in der gebauten Umwelt. Auf Bahnhöfen sind sie Standard: weiße Noppenplatten, sogenannte Aufmerksamkeitsfelder, geben Orientierung für Menschen mit Sehbehinderung. Rillenplatten in Gehrichtung weisen den Weg, quergestellte Rillenplatten signalisieren dem Langstockgänger: Obacht, Gefahr. Ampeln vibrieren, und auf Fühlplänen ist die Umwelt plastisch dargestellt - samt Infos in Blindenschrift. Das hilft - und gefällt auch allen anderen, die sich einen Überblick über die Stadt verschaffen wollen. Die Kunst einer barrierefreien Gestaltung besteht darin, keine Inseln entstehen zu lassen, die zwar für sich alles richtig machen, aber unverbunden bleiben. Hier muss alles zusammenspielen, damit etwas Ganzes entsteht: öffentlicher Personennahverkehr, vor allem Busse und Trambahnen, Fußgängerzonen, wichtige kommunale Einrichtungen wie Rathaus, Krankenhäuser, Apotheken, Lebensmittelläden, Cafés.

Es gibt keinen Königsweg dahin, wohl aber gute Ansätze, unsere Straßen, Plätze, Busbahnhöfe und Einkaufsmöglichkeiten für alle zu öffnen.

© SZ vom 22.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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