"Virtual Reality":Dieses Kino ist so futuristisch, dass mir schlecht wurde

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Ein Besucher testet eine Virtual-Reality-Brille auf einer Messe in Taiwan. (Symbolbild) (Foto: REUTERS)

In Berlin eröffnet Deutschlands erstes Kino für "Virtual Reality"-Filme. Jedem zwanzigsten Zuschauer wird übel - wie unserer Autorin.

Von Jessica Binsch, Berlin

Der Weg in die Zukunft führt mich vorbei an Spuren der Vergangenheit. Deutschlands erstes "Virtual Reality"-Kino liegt versteckt in einem ehemaligen Werkshof in Berlin-Mitte. An den Häuserwänden Löcher wie von Einschüssen aus dem Zweiten Weltkrieg, im Treppenhaus blättert der Putz ab. Schilder weisen den Weg zu einem altmodisch gestalteten Kinosaal voller weißer Drehsessel.

Im Gegensatz zu einem traditionellen Kino sind die Sitze nicht in Reihen aufgestellt, sondern im Kreis. Auf jedem liegt eine Brille für 360-Grad-Videos bereit, die an eine weiße Taucherbrille erinnert: Samsungs Gear VR, in die sich ein Smartphone schieben lässt, das als Leinwand auf der eigenen Nase dient ( hier ein Test des Geräts).

Die Idee eines VR-Kinos klingt abwegig, schließlich ist die langsam ausreifende Technik eigentlich eher etwas für einsame Ausflüge: Die Brillen sollen ihre Träger allein in eine fremde Welt versetzen, die sich vollständig um sie herum ausbreitet.

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Die niederländische Beratungsfirma hinter dem VR-Kino versucht zu zeigen, dass die Technik auch ein Gemeinschaftserlebnis sein kann. Mit ihrem Kino hat sie der virtuellen Realität ein Wohnzimmer gebaut. Discokugeln und Stickereien hängen an den Wänden, Projektoren werfen helle Lichtpunkte an die Decke. Es riecht nach Holz. In der Mitte des Sitzkreises strahlt eine altmodische Lampe in gelbem Licht, an den Wänden hängen Filmposter.

Drei Mitarbeiter eilen wie Kellner durch den Raum und starten die Vorführung für jeden Zuschauer einzeln. Rund um die Lampe, die aussieht wie aus den Fünfzigern, sitzen zwei Dutzend Menschen mit den überdimensionierten Brillen auf der Nase. Sie drehen sich auf ihren Sesseln und bewegen die Köpfe, um die digitale Welt zu erkunden, die auf dem Bildschirm des Smartphones vor ihren Augen abläuft.

Auf dem Programm stehen drei kurze Filme, speziell gedreht mit 360-Grad-Kameras. Ein Film über den Maler Salvador Dalí, ein Musikvideo, und eine Dokumentation über Flüchtlinge und ihre Helfer.

An dieser Stelle wollte ich eigentlich ausführlich berichten, wie es sich anfühlt, durch Gemälde von Dalí zu fliegen oder bei einem Musikvideo mit der Band zu tanzen. Das Problem ist nur: Mir wird von den 360-Grad-Filmen schlecht.

Es geht schon am Anfang des ersten Films los: Die Kamera fliegt über eine Wüste auf ein turmhohes Tor zu. Die Bewegung schlägt mir auf den Magen. Ich schaue hoch: Der digitale Himmel ist voller Sterne, zum Glück wirkt er einigermaßen ruhig. Ich wage noch einen Blick auf das Tor, inzwischen bin ich näher herangekommen und fliege nicht mehr ganz so schnell. Das flaue Gefühl im Magen bleibt. Die Sinneseindrücke sind verwirrend: Meinen Augen wird vermittelt, dass ich fliege, mein Körper sitzt ruhig im Kinosessel. Außerdem reagieren die Brillen mit ein wenig Verzögerung auf Bewegungen ihrer Träger. Ich schaue also schneller, als das Bild berechnet wird. Diese kleine Ungleichzeitigkeit löst bei manchen Menschen Unwohlsein aus.

Vielleicht wird es beim nächsten Film besser, dem Musikvideo. Solange ich geradeaus schaue, geht das tatsächlich einigermaßen. Die Band trägt enge Klamotten und spielt einen Popsong. Dann bemerke ich, dass der Film überall um mich herum spielt. Rechts stehen Musiker, hinter mir Tänzerinnen. Beim Umdrehen wird mir wieder schlecht. Die Bilder wirken unscharf, obwohl die VR-Brille über ein kleines Rädchen fokussiert werden kann.

Letzter Versuch: die Doku. Den Film namens "In your face" hat die niederländische Firma Samhoud Media, die das Kino betreibt, selbst produziert. Er handelt von einem Popstar-Pärchen, das sich öffentlich für Flüchtlinge einsetzt und genötigt wird, einen Flüchtling in der eigenen Wohnung aufzunehmen. Ein Kamerateam filmt die Diskussion am Küchentisch. Die Zuschauer beobachten alles aus der Perspektive der Raumdecke. Auch diese Bilder wirken seltsam unscharf.

Besonders seltsam ist es, mit der VR-Brille auf dem Kopf nach unten zu schauen. Dort sind in der Realität die eigenen Füße, doch in der digitalen Vorführung kommen sie nicht vor. Mit flauem Gefühl im Magen setze ich die Brille wieder ab.

Übelkeit ist ein bekanntes (und hartnäckiges) Problem bei VR-Medien. In Vorstellungen mit 20 Personen wird etwa einer Person schlecht, schätzt Kino-Manager Michael Yosef. Ich bin die eine. Auch bei Computerspielen im 360-Grad-Modus kann Schwindelgefühl auftreten, wegen der vielen schnellen Drehungen und abrupten Bewegungen.

Meine Sitznachbarn haben augenscheinlich keine großen Schwierigkeiten mit dem 360-Grad-Filmen. Nur einer setzt ebenfalls seine Brille ab, weil ihm schlecht wird. Die anderen drehen sich auf ihren Stühlen, schauen durch ihre Brillen nach rechts und nach links, blicken an die Decke und hinter sich, es ist ein Schauspiel für sich.

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Von virtueller Realität im eigentlichen Sinne ist das Berliner Kino allerdings noch ein Stück entfernt. Hier werden genau genommen 360-Grad-Filme gezeigt. Zuschauer können zwar in einen Film eintauchen, sich darin aber nicht bewegen, wie sie wollen. Sie können nicht zu den Musikern der Band laufen oder in Dalís Wüste über den nächsten Hügel klettern. Objekte im Film lassen sich nicht "anfassen" oder bewegen, auch wenn sie zum Greifen nah wirken. Diese Interaktion mit digitalen Gegenständen ist bisher vor allem in Computerspielen möglich, und das auch nur mit bestimmten VR-Brillen wie der Vive von HTC.

Die Zuschauer sehen einander nicht, sie können die anderen aber trotz Kopfhörern hören. Einige machen Scherze und kommentieren, was sie durch ihre Brillen sehen. Das stört hier niemanden.

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"Du bist richtig in der Szene drin", sagt Besucher Patrick Grieger nach der Vorführung. "Das ist wirklich eine andere Dimension." Grieger beschäftigt sich schon länger mit VR-Brillen und hat seine Familie zum Kinobesuch mitgebracht. Seine Mutter Barbara hatte erst Sorge, dass ihr auch schlecht werden würde, doch ihr erging es besser als mir. "Man muss sich daran gewöhnen", sagt sie. Für Patricks Bruder Erik hätte es auch noch turbulenter sein können: "Ich hätte mir noch eine Achterbahnfahrt gewünscht", sagt er.

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