Recht auf Vergessenwerden:Lobby für die Menschenwürde

Lesezeit: 5 min

Nach dem Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Recht auf Vergessenwerden geraten die USA und Europa beim Datenschutz schon wieder aneinander. Warum eigentlich?

Von James Q. Whitman

Das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat in Amerika ebenso für Schlagzeilen gesorgt wie in Europa. Auf beiden Seiten des Atlantiks ist man fasziniert vom "Recht auf Vergessenwerden". Doch nichts deutet darauf hin, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten oder der Kongress jemals so urteilen würden. Im Gegenteil, das amerikanische Gesetz ist zutiefst lebensfeindlich.

Wieder einmal sind Amerika und Europa geteilter Meinung über den Datenschutz. Warum ist das so? Sorgen sich Amerikaner denn nicht um ihre Privatsphäre? Natürlich tun sie das. Aber um die transatlantic privacy wars zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, wie sich das amerikanische Konzept von Privatsphäre vom kontinentaleuropäischen unterscheidet.

Amerikaner haben genauso wie Europäer Angst, dass ihre Privatsphäre verletzt wird. Doch die amerikanische Kultur unterscheidet sich von der europäischen Kultur, und amerikanische Ängste nehmen andere Formen an. Über dem amerikanischen Rechtssystem schwebt ein beständiger Schatten: der Schatten eines allmächtigen Staates. Der Grundwert im amerikanischen Recht ist Freiheit, und Amerikaner halten Regierungsbeamte für die größte Bedrohung ihrer Freiheit. Das bedeutet also, sie nehmen an, dass die größte Bedrohung ihrer Privatsphäre von Polizisten, Steuerprüfern und Gesetzgebern ausgeht.

Aus diesem Grund sehen Amerikaner die Welt völlig anders als Europäer.

Für Amerikaner könnte es keine ungeheuerlichere Verletzung ihrer Privatsphäre geben als die deutsche Meldepflicht. Wie kann denn die Privatsphäre sicher sein, wenn die Polizei jeden kontrolliert? Weil Amerikaner dem Staat grundsätzlich misstrauen, dreht sich die Diskussion um Privatsphäre hier um die Strafprozessordnung. Wenn Amerikaner von Privatsphäre sprechen, fordern sie zuerst Grenzen: Wie darf der Staat in einem laufenden Verfahren an belastendes Material gegen den Angeklagten gelangen? Sogar, wenn Kriminelle offensichtlich schuldig sind, hindert die amerikanische Gesetzgebung den Staat manchmal daran, sie zu verurteilen. Weil Amerikaner den Staat fürchten und ihm misstrauen, halten es viele für ihr wichtigstes Recht, eine Waffe zu besitzen - ohne dass der Staat sich einmischt. Für andere ist Abtreibung das wichtigste "Persönlichkeits"-Recht, selbstbestimmt und frei von staatlicher Beeinflussung.

Das Widersprüchliche daran: In Wirklichkeit behält der amerikanische Staat trotzdem eine beängstigende Macht. Nichtsdestotrotz bleibt ein Glaubensgrundsatz in der amerikanischen Gesetzgebung, dass der Staat der große Feind ist. Im Kern zielt unser Persönlichkeitsrecht darauf, den Staat aus unserem Alltag herauszuhalten. Im amerikanischen Persönlichkeitsrecht geht es um Freiheit. Kontinentaleuropa ist anders.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema