Im Humanistischen Gymnasium einer nicht ganz kleinen deutschen Stadt hat man es längst aufgegeben, die Schüler mit der Lektüre längerer Texte zu überfordern. Doch selbst bei einfacheren Etüden, das ist man sich als Gymnasium mit gediegenster Bildungstradition schuldig, wird auf Niveau geachtet. Beim Orthografie-Test, eine besondere Lästigkeit seit der zähen und undurchschaubaren Reform, greift der Lehrer auf einen klassischen Text zurück. Er legt den Schülern den Anfang der "Buddenbrooks" vor. Um ihre Rechtschreibkenntnisse abzuprüfen, lässt er die Kinder die Satzzeichen erst entfernen, und dann sollen sie sie wieder so einfügen, wie es die Orthografie verlangt. Deutsches Gymnasium 2013, aber vielleicht hilft's ja auch.
Papier ist alt, analog, irgendwas von vorgestern. Da die Kinder ohnehin den ganzen Tag am Computer sitzen, werden sie deshalb aufgefordert, zu Hause einfach den Anfang der "Buddenbrooks" aus dem Netz zu kopieren und dann damit zu arbeiten. Thomas Mann steht im Netz und ist damit gemeinfrei? Interessant. Thomas Mann ist 1955 gestorben. In Deutschland gilt eine Schutzfrist von siebzig Jahren nach dem Tod des Autors. Seine Werke sind also 2013 nicht gemeinfrei, sondern noch zwölf Jahre tantiemenpflichtig, und sollten deshalb nicht frei verfügbar sein.
Das Urheberrecht schützt das geistige Eigentum der Autoren und soll deshalb ihre Texte vor einer kostenlosen Nutzung bewahren. Die Website projekt.gutenberg.de, die deutschsprachige Autoren in oft liederlichen Ausgaben, aber immerhin herausbringt, kennt von der überaus produktiven Familie Mann weder Heinrich noch Klaus Mann; der "Zauberberg" (1924 erschienen) von Thomas Mann ist "vorhanden", aber, wie ein Vermerk korrekt verkündet, "bis zum 1.1.2026 gesperrt".
Etwas anders sieht es auf der amerikanischen Partner-Website www.gutenberg.org aus. Dort findet sich tatsächlich der vollständige Roman "Buddenbrooks". Es handelt sich zwar nicht um die Erstausgabe, sondern um eine Lizenz, die 1906 bei der Deutschen Buch-Gemeinschaft herauskam, aber es ist ohne Zweifel jener "Verfall einer Familie", der zuerst 1901 beim Verlag S. Fischer in Berlin erschienen ist; der Rechtsnachfolger S. Fischer in Frankfurt verwaltet bis heute die Rechte, auch diesen Anfang:
",Was ist das. - Was - ist das . . .'
'Je, den Düwel ook, c'est la question, ma très chère demoiselle!'
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt."
Das sind mehr als zehn Zeilen, und der Jurist mag jetzt überlegen, ob die "Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist", wie es im Zitatrecht heißt oder vielleicht doch nicht, denn dann wäre das Zitat bereits kostenpflichtig. In den USA wird das vom Urheber abgeleitete Verwertungsrecht noch weit strenger ausgelegt. Deshalb musste John Updike beispielsweise eine Schutzgebühr bezahlen, als er in seinem Roman "Roger's Version" (1986) Cyndi Laupers unsterbliche Zeile "I bop - you bop - a - they bop!" verwendete.
Die Auskunft von Project Gutenberg lautet, dass der bewusste Titel in den USA gemeinfrei sei; was das Copyright in anderen Ländern betrifft, so wird auf deren möglicherweise abweichende Rechtslage verwiesen. Während sie in Deutschland eindeutig ist - Bücher werden erst siebzig Jahre nach dem Tod des Autors frei -, ist sie in den USA etwas komplizierter. Auch dort gilt seit einiger Zeit die Siebzig-Jahre-Regelung, aber ausgenommen davon sind Bücher, die vor 1923 erschienen sind.
Das trifft aber eben nur für die USA zu, und nicht für Deutschland. Project Gutenberg ist eine gemeinnützige Organisation. Sie wurde 1971 von dem Computer-Hippie Michael Hart gegründet mit dem Ziel, möglichst viel Literatur möglichst vielen zur Verfügung zu stellen. Als guter Patriot stellte er als erstes Werk die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ins Netz. Nach gut vierzig Jahren führt das Unternehmen mehr als 43 000 Titel; dem Vernehmen nach kommen jede Woche fünfzig weitere dazu.
Neben den "Buddenbrooks", die als Nummer 34881 geführt werden, erscheinen dort noch sechs weitere Titel von Thomas Mann in deutscher Sprache. Den "Tonio Kröger" (1903) gibt es sogar zweifach: einmal in einer gescannten Ausgabe von 1922 mit den Illustrationen von Erich M. Simon und dann, schon frecher, in einer bilderlosen Version, die 1964 als "Schulausgabe" bei S. Fischer in Frankfurt herauskam.