Studierende mit Behinderung:Der lange Weg in den Hörsaal

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Studierende mit körperlichen Behinderungen haben es an den Hochschulen nicht leicht - oft wird schon der Weg in den Seminarraum zu einem wahren Hindernisparcours. Johanna Klemm studiert in München Jura mit einem Stipendium für Begabte - doch das hilft ihr an der Fahrstuhltür wenig.

Martina Scherf

Mit einem Lächeln biegt Johanna Klemm um die Hausecke, rollt auf den rückwärtigen Eingang der Universität zu und die Rampe hinauf: "Hallo, da bin ich." Sie fährt mit ihrem Rollstuhl ganz dicht an die schwere Holztür heran, ein dickes Gesetzbuch auf dem Schoß, und siehe da, das Tor öffnet sich. Die erste Hürde in die Alma Mater ist geschafft.

Johanna Klemm muss bestens organisiert sein, um in ihrem Jura-Studium zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Johanna Klemm, 21, studiert im vierten Semester Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihr Abi hat sie mit 1,4 bestanden, am "Kleinen privaten Lehrinstitut Derksen" in München, einer Schule, die Inklusion seit vielen Jahren erfolgreich verwirklicht. Sie hat ein Stipendium der Studienstiftung für besonders Begabte.

Johanna hat nie gehen gelernt. Sie leidet seit ihrer Geburt an einer spinalen Muskel-Atrophie, die ihre Bewegungsfreiheit sehr weit einschränkt - ihren ersten Rollstuhl bekam sie im Alter von zwei Jahren. Heute steuert die junge Frau ihr elektrisches Fahrzeug souverän mit der rechten Hand durch die Flure und über die Treppenrampen der ehrwürdigen Universität. Gemessen daran, dass sie ein Altbau ist, hat die LMU schon mehr Erleichterungen für behinderte Menschen geschaffen als jede andere bayerische Universität - auch wenn der Haupteingang wegen Denkmalschutzes keine Rampe erhält.

Um die Jura-Vorlesung im großen holzgetäfelten Hörsaal des ersten Stocks zu besuchen, muss die Studentin den Lastenaufzug nutzen - längst nicht alle Aufzüge sind breit genug für elektrische Rollstühle. Johanna kommt mit dem Daumen der linken Hand gerade noch an den Druckknopf, die Tür öffnet sich - doch bevor der Rollstuhl drin ist, schließt sie sich mit einem lauten Rumpeln schon wieder. Johanna kennt den "launischen Aufzug" und ist gewappnet, beim ersten Mal hat er ihr die Finger eingeklemmt. Ein launischer Lift hier, ein fehlender Klapptisch da, eine nagelneue automatische Tür im Studentenwerk, die sich nach außen, statt nach innen öffnet - für viele Menschen mögen das Kleinigkeiten sein, für Behinderte sind sie echte Hindernisse.

Vor allem muss Johanna sehr früh da sein. Noch früher als die tausend anderen, die versuchen, einen Sitzplatz im Hörsaal zu ergattern. Sie muss sich durchs Gedränge schieben und sich möglichst so platzieren, dass sie freie Sicht auf den Dozenten hat. Das funktioniert im ansteigenden Saal zwischen den Sitzreihen, doch dann hängt der Rollstuhl nach vorne, und "wenn ich hier zwei Stunden sitze, tut mir alles weh", sagt Johanna. Einen Tisch zum Mitschreiben hat sie hier nicht.

In anderen Sälen gibt es reservierte Plätze für Rollstuhlfahrer, inklusive Klapptisch. Manchmal versucht Johanna, sich selbst Notizen zu machen, oft hat sie einen Assistenten dabei. Um solche Hilfen aus dem Nachteilsausgleich zu erhalten, muss man vor Beginn jeden Semesters und jeder Ferien wieder Formulare ausfüllen, Atteste bringen, Fragen beantworten: Hat sich an der Erkrankung vielleicht etwas gebessert?

Johannas Zustand bessert sich ganz offensichtlich nicht. Trotzdem hat es drei Semester gedauert, bis sie die dauerhafte Zusage der Hilfen bekam. "Ich wollte schon persönlich in das Amt gehen, damit sie sehen, dass ich sie nicht täusche. Aber als ich dort ankam, gab es keinen Rollstuhl-Aufzug, um ins zuständige Büro zu gelangen. Ach so, sagte die Dame am Telefon, daran hatte ich nicht gedacht." Um diesen Zeitaufwand, zusätzlich zu den Vorlesungen, Studierzeiten, Prüfungsvorbereitungen, Arztbesuchen und der Organisation des ganz normalen Alltags einzukalkulieren - dazu muss man schon so gut organisiert sein wie die 21-Jährige. Es gibt aber auch positive Beispiele: Bei einer Veranstaltung der Studienstiftung bot ein Professor an, sie persönlich in den ersten Stock zu tragen.

Hilfe gibt es an der LMU aber auch von Maxym Gela. Die studentische Hilfskraft kümmert sich gemeinsam mit einem Kommilitonen um behinderte Studenten. Er sagt: "Ich mache diesen Job hier viel lieber, als abends in der Bar zu arbeiten." Im Ruhe- und Serviceraum im Erdgeschoss ist er Ansprechpartner für alle Alltagsfragen: zur Barrierefreiheit von Hörsälen und Bibliotheken, Organisation von separaten Prüfungsterminen, Hilfe beim Bedienen des blindengerechten Computers. Hier gibt es auch ein Sofa, auf dem Johanna ihren Rücken entlasten kann. Der Zugang zu diesem Raum ist nur mit einem Zahlencode möglich. Den kann Johanna zwar eintippen - aber die Tür öffnet sich nicht automatisch, sie kommt nur rein, wenn jemand da ist. Schon wieder so ein Detail, das einfach vergessen wurde. Die junge Frau hat der Verwaltung aber schon einige Anregungen übermittelt. "Man muss sich halt um alles selber kümmern", sagt sie.

Vor kurzem ist Johanna von Zuhause ausgezogen, in ein Wohnheim an der Kaulbachstraße. Sie ist glücklich darüber, unter Studenten zu sein und wegen des kurzen Weges auch mal zwischen den Vorlesungen nach Hause fahren zu können. In allen bayerischen Wohnheimen gibt es behindertengerechte Zimmer, in Johannas Fall ist noch ein Zimmer für einen Betreuer reserviert. Und wieder hat sie sich ein Stück Selbstständigkeit erkämpft: Vor wenigen Tagen wurden automatische Türen installiert, die sie ohne Hilfe bedienen kann. Wenn im Keller eine Party stattfindet, ist Johanna dabei. Darüber freut sie sich richtig.

© SZ vom 03.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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