Studenten-Proteste in Chile:Generation ohne Angst

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Schule und Studium sind fast nirgendwo auf der Welt so teuer wie in Chile. Doch das wollen sich die jungen Leute nicht mehr gefallen lassen. Sie gehen unerschrocken gegen das Bildungssystem auf die Barrikaden - und haben viele Argumente auf ihrer Seite.

Peter Burghardt

An Chiles bekanntester Straße stehen sich die zwei Lager dieses Duells wie Festungen gegenüber. Auf der einen Seite der Avenida Bernardo O'Higgins von Santiago, auch genannt Alameda, liegt der Präsidentschaftspalast La Moneda; und schräg gegenüber hat die Universidad de Chile ihr Hauptquartier, die bedeutendste Hochschule der südamerikanischen Republik. Irgendwo dazwischen protestieren immer wieder Schüler und Studenten gegen ein System, das hauptsächlich Gewinn im Sinn hat.

Kreativer Aufruhr mit nackter Haut in der Stadt Valparaiso - doch bei den chilenischen Studentenprotesten gibt es auch immer wieder Krawalle. (Foto: Reuters)

"Kostenlose Bildung, jetzt", steht auf Transparenten, Ende August waren es 150 000 Demonstranten. Manchmal besetzen sie Schulen und Universitäten, und manchmal werden friedliche Kundgebungen zur Schlacht, wenn zum Beispiel wenige Vermummte mitmischen und viele Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas anrücken. Denn der Kampf um eines der ungerechtesten Erziehungskonzepte der Welt ist noch lange nicht vorbei.

Der Streit findet kein Ende, seit mehr als einem Jahr zanken sich chilenische Jugendliche und junge Erwachsene mit der Regierung. Sie wollen es sich nicht länger bieten lassen, dass ihre führenden Politiker sogar ihre Ausbildung als Geschäft betrachten. In wenigen Ländern sind Schulbesuche und besonders eine akademische Ausbildung teurer als in Chile. Studenten aus weniger wohlhabenden Familien verschulden sich auf Jahre, Banken machen mit Krediten Kasse.

Erst nahm der konservative Präsident Sebastián Piñera den Aufstand nicht ernst, doch inzwischen musste er schon zwei Erziehungsminister entlassen - und die Herausforderer empfangen. Er selbst wird immer unbeliebter, die vormals unbekannte Studentenführerin Camilla Vallejo wurde dagegen berühmt, weltweit sogar. Drei von vier Chilenen unterstützen die Forderungen der Studenten. Wie kann das alles sein im vermeintlichen Musterland zwischen Anden und Pazifik?

Chile gilt orthodoxen Ökonomen ja immer noch als Vorbild der Region, mit freiem Markt, solidem Wachstum und stabilen Institutionen. Chile allerdings war der Spielplatz der "Chicago Boys", der Jünger des Ultraliberalen Milton Friedman. Die durften ihre Privatisierungsexzesse ausprobieren und den Staat bis zur Unkenntlichkeit verkleinern, nachdem 1973 der General Augusto Pinochet den Sozialisten Salvador Allende hinweggeputscht und Andersdenkende massakriert hatte. Die Diktatur ist zwar seit 1990 vorbei und Pinochet seit 2006 tot, doch das Wirtschaftsmodell wurde nie angetastet. "Wir sind das Laboratorium des Neoliberalismus", sagte Camilla Vallejo, als man ihr vor ein paar Monaten in einem Büro der Studentenvereinigung Fech gegenübersaß. "Wir sind in Lateinamerika eines der Länder mit den höchsten Einkommen, aber trotz des Wirtschaftswachstums eines der Länder mit der weltweit größten Ungleichheit. Der Staat garantiert keine universellen Rechte wie die Erziehung."

Private Unis verlangen horrende Gebühren, auch öffentliche Institute sind so kostspielig, dass Absolventen jahrelang ihre Schulden und Zinsen abstottern müssen. Eine Journalistik-Studentin der Universidad de Chile erzählte, sie sei 23 Jahre alt und habe 25.000 Dollar Schulden. Zahle sie die Raten in der maximal möglichen Zeit ab, dann bekomme die Bank von ihr 50.000 Dollar. Ziemlich beunruhigend für eine angehende Reporterin, die als Berufsanfängerin in Chile wenig mehr als 500 Dollar verdient. Ihre Eltern hatten bereits wegen der katholischen Privatschule eine Hypothek auf ihr Haus aufnehmen müssen.

Gegen solche Zustände geht es, mittlerweile haben sich der Auseinandersetzung um diese "Chile AG" auch Gewerkschaften, Kupferarbeiter und Ureinwohner angeschlossen. Die Avantgarde indes sind einmal mehr die Aktivisten aus den Klassenzimmern und Hörsälen. Bereits unter Pinochet trauten sich Studenten auf die Barrikaden, darunter Camilla Vallejos Eltern, manche bezahlten dafür mit ihrem Leben oder zumindest mit ihrer Freiheit. Die Kinder leben trotz oft brutaler Polizeieinsätze ungefährlicher und trauen sich noch mehr. Camilla Vallejo wurde 1988 geboren, im Jahr des erfolgreichen Referendums gegen den Tyrannen Pinochet. Sie sagt: "Wir sind die Generation ohne Angst."

Die Geologie-Studentin mit kommunistischem Parteibuch brachte es als Studentenführerin zum Gesicht der Empörten, zur globalisierten Jeanne d'Arc aus Santiago. Hübsch, redegewandt, ideologisch. Die britische Zeitung Guardian ernannte sie zur Persönlichkeit des Jahres, man verglich sie mit Che Guevara, einem ihrer Helden. Das freut sie einerseits: "Die Gesellschaft sucht Referenzfiguren, Leute, die nicht Teil einer politischen und wirtschaftlichen Elite sind. Es gibt eine Sehnsucht nach Antihelden, die Hoffnungen reflektieren."

Andererseits: "Das ist die typische Strategie des Kapitalismus: Bewegungen werden personifiziert, um sie leichter attackieren zu können. Mich haben sie angegriffen, weil ich Kommunistin bin, Frau, und wegen meines Aussehens. Aber bei uns geht es nicht um eine Person."

Den Ärger bekam vor einigen Jahren bereits die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet zu spüren. Damals machten die sogenannten Pinguinos Furore, wütende Schüler. Frau Bachelet reagierte mit Geschick, sie genießt als Kinderärztin und Tochter eines unter Pinochet getöteten Allende-Armeechefs moralische Autorität. Jetzt haben die erwachsenen Pinguine einen ungeschickten Präsidenten zum Gegner und entdecken in ihm ein Symbol der Verhältnisse. Staatschef Piñera hatte bereits unter Pinochet mit Kreditkarten Geld gemacht und später mit der privatisierten Fluglinie Lan ein Vermögen. Der Milliardär mit einem Master aus Harvard zählt zu den reichsten Chilenen und betrachtet seine Heimat wie eine Firma, die Wünsche der Basis passen nicht recht in sein Weltbild.

Den Protestierern bot sein Kabinett billigere Kredite an, mehr Stipendien und eine Steuerreform, um eine Milliarde Dollar für die Erziehung einzutreiben. Strukturelle Änderungen lehnt Piñera ab. Die Schüler und Studenten verlangen wie gehabt kostenfreie bis deutlich günstigere Bedingungen, bessere Kredite und eine Senkung der exorbitanten Gebühren. Sie wollen, dass die Finanz-Elite stärker zur Kasse gebeten wird. "Alle sollen wir den Kuchen und die Sandwiches zahlen, doch nur ein paar wenige sind zum Fest eingeladen", spottet Noam Titelman, einer der Sprecher der Rebellen. "Es wird Zeit, dass wirklich diejenigen mehr zahlen, die mehr haben."

Geld wäre da. Zum Beispiel könnte man jene zehn Prozent der milliardenschweren Kupfereinnahmen umleiten, die automatisch der Armee zukommen. Doch der Staat schickt den Widerständlern im Zweifel prügelnde Polizisten auf den Leib, alte Instinkte aus der Ära Pinochet. Die Knüppel treffen nicht nur vereinzelte Vandalen, die Autobusse anzünden und Ordnungshüter angreifen. Ihre Schläge zielen auch auf wehrlose Schülerinnen, wie Zeugenaussagen und Fotos rotblauer Gesichter illustrieren. Sogar von sexueller Belästigung der Demonstrantinnen ist die Rede, und erst kürzlich gab es wieder diverse Festnahmen. Menschenrechtler sind entsetzt.

Zudem gibt es erste Brüche bei den Aufständischen und Ansätze von Erschöpfung. Camilla Vallejo berichtete kürzlich im Fernsehen, die Studenten hätten sich mit all den Kundgebungen und Märschen verbraucht. Ihr Nachfolger als Wortführer der Universidad de Chile widersprach. Die Bewegung sei nicht verbraucht, findet Gabriel Boric: "Ich glaube, wir haben eine andere Periode erreicht und müssen verschiedene Arten der Mobilisierung nutzen. Wir sind es leid, an Türen zu klopfen, die sich nicht öffnen, und gehen jetzt als soziale Bewegung in die Offensive."

© SZ vom 17.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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