Schule in Italien:29 Wochen

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Auf der Gianicolo-Terrasse mit Blick auf Rom werfen Kinder ihre Schultaschen in die Luft. "Schule, öffne dich" lautet der Aufruf, den sie an diesem 8. Juni starten. Da haben die Schulen schon seit 14 Wochen zu. (Foto: AP)

Schon die Sommerferien sind in Italien lang: drei Monate. Doch auch wegen Corona bleiben die Schulen in diesem Jahr viel länger geschlossen als in Deutschland. Darunter leiden Schüler, Eltern und Lehrer.

Von francesca polistina

Es passierte über Nacht: Am 23. Februar, einem Sonntag, beschlossen einige norditalienische Regionen, darunter die Lombardei, wegen der raschen Ausbreitung des Coronavirus alle Schulen zu schließen - mit sofortiger Wirkung. Nicht einmal ihre Bücher und Hefte konnten die Schüler am nächsten Morgen holen. "Von da an war die Schule für uns gesperrt. Eine Lehrerin hat die Bücher der Kinder eingesammelt und sie in einem Laden abgegeben, wo wir sie dann abgeholt haben", sagt Patrizia Nappi aus Mailand. Für sie und ihre vierköpfige Familie markiert dieser Tag den abrupten Anfang der Pandemie. Wenig später, am 4. März, ordnet die Regierung die Schulschließung in ganz Italien an. Als erstes Land in Europa.

Seitdem sind die italienischen Schulen komplett zu. Anders als in Deutschland wurde weder die Rückkehr von Abschlussklassen erlaubt noch eine Notbeschulung für Kinder von Pflegekräften oder anderen systemrelevanten Berufen eingerichtet. Lediglich die Abiturprüfungen durften stattfinden. Auch die Kitas und Krippen sind bis heute beinah überall geschlossen. Nur im Trentino und in Venetien können Eltern ihre kleinen Kinder seit Juni wieder betreuen lassen.

Patrizia Nappi ist Buchhändlerin, ihr Mann arbeitet als Projektmanager in einer Dienstleistungsfirma. Ihr jüngerer Sohn ist anderthalb, der ältere fast sieben, er geht schon zur Schule. Um die beiden neben ihrer Arbeit zu betreuen, haben sich die Eheleute in Schichten organisiert - vormittags ein Elternteil, nachmittags der andere. "Eine sehr anstrengende Zeit", sagt die 33-Jährige. Zwar haben nun einige Ferienlager wieder geöffnet, doch Plätze sind teuer und begehrt. Patrizia Nappi hat trotzdem angefragt, ist aber leer ausgegangen. Die Familie muss weiter durchhalten.

Maria Angela Grassi wirft der Regierung Unterlassung vor: Sie habe die Kinder "vergessen"

Erst Mitte September, nach der traditionellen dreimonatigen Sommerpause, sollen in Italien die Türen der Schulen und Kitas wieder aufgehen. Das bedeutet, wenn alles klappt: Zwischen dem letzten und dem ersten Schultag werden fast sieben Monate liegen. Für Kinder ist das eine Ewigkeit. Maria Angela Grassi macht sich deshalb Sorgen. Die Pädagogin hat lange für die Stadt Rom gearbeitet, nun ist sie im Vorstand der Associazione Nazionale Pedagogisti Italiani, einem Verband für Erzieherinnen und Erzieher. Die lange Schulschließung habe die bestehenden Unterschiede zwischen Schülern weiter vergrößert, sagt sie: "Benachteiligte Kinder haben nun noch mehr Schwierigkeiten, viele entwickeln sich sogar zurück." Ihrer Meinung nach wird den Familien zu viel zugemutet. Eltern mit guten Voraussetzungen würden ihre Kinder in deren Entwicklung unterstützen, für andere aber sei es "ein verlorenes Jahr", sagt Grassi. Eine Studie des Kinderkrankenhauses Gaslini in Genua liefert dafür Belege: 65 Prozent der Kinder unter sechs Jahren zeigten demnach während des Lockdowns "Verhaltensprobleme und Symptome von Regression".

Pädagogin Grassi wirft der italienischen Regierung Unterlassungssünden vor. "Kinder, vor allem die Kleineren, wurden vergessen", kritisiert sie. Das sieht auch Patrizia Nappi so. "Wir Eltern haben die Tage mit Kinderbetreuung, Homeschooling und Arbeit gefüllt, ein Dauerrennen. Man hätte viel mehr berücksichtigen müssen, wie sich der Shutdown auf die Psyche der Kinder auswirkt", sagt sie.

Das Wort "vergessen" ist in der Corona-Krise häufig gefallen, gerade im Kontext Schule. Die radikalen Schließungen haben in Italien für Schlagzeilen und Wut in der Bevölkerung gesorgt. "Obwohl sie die Schulen zuerst geschlossen hat, redete die Politik dann wochenlang über Lockerungen für Geschäfte und Restaurants. Von den Schulkindern redete sie nicht", sagt Costanza Margiotta. Die zweifache Mutter gehört zu einer Gruppe von Eltern aus Florenz, die Ende März an den Bürgermeister der Stadt eine Petition richtete. "Mezz'ora d'aria per i bambini", forderten die Eltern darin, eine halbe Stunde Frischluft für die Kinder. Denn im ersten Monat des Lockdowns durften zwar Hunde zum Gassigehen raus, nicht aber Kinder zum Spielen oder Spazierengehen. Die Regierung hatte sich zu der Kinderfrage schlicht nicht geäußert, erst die Petition und immer hitzigere Diskussionen in den sozialen Netzwerken brachten den zornigen Eltern den Durchbruch. Heute berichtet Costanza Margiotta davon mit einer Mischung aus Lachen und Entsetzen. "Es war absurd", sagt sie.

Aus der Petition ist mittlerweile das Komitee Priorità alla Scuola entstanden: Priorität für die Schule. Diesem Aufruf schlossen sich im Juni protestierende Menschen in 60 Städten an. Die Initiative verlangt Corona-Tests an Schulen, mehr Lehrerstellen, mehr Geld für die Bildung. Vier Prozent seines Bruttoinlandprodukts (BIP) gab Italien 2018 laut EU-Statistik für Bildung aus, das entspricht 70 Milliarden Euro. Weniger als Deutschland (4,2 Prozent BIP, 139 Milliarden Euro) und weniger als die Länder im EU-Durchschnitt (4,7 Prozent BIP). Auch deshalb trat im vergangenen Dezember der letzte Bildungsminister zurück: aus Protest gegen sein geringes Budget. Inzwischen hat die Regierung 2,5 Milliarden Euro draufgelegt.

In Rom haben laut einer Umfrage 60 Prozent der Schüler nie Online-Unterricht gehabt

Verunsichert sind die Eltern trotzdem noch. Patrizia Nappis Erstgeborener hätte normalerweise gerade seine erste Grundschulklasse beendet. Nun fragt er, ob er im September wieder in die Schule darf. Er vermisst seine Freunde und Lehrerinnen, in den Monaten des Lockdowns hat er sie nur zwei, drei Stunden pro Woche auf dem Computerbildschirm gesehen. Seine Mutter weiß nicht recht, wie sie ihm antworten soll. "Ich will ihm nichts Falsches versprechen", sagt sie. Denn obwohl die Ministerin Lucia Azzolina der Fünf-Sterne-Bewegung nach langem Hin und Her versicherte, dass es nach der Sommerpause wieder losgeht, sind wichtige Fragen offen. Die räumliche zum Beispiel. Mindestens einen Meter Abstand sollen die Schüler wahren. Dann passen aber nur 85 Prozent der Schüler in die Gebäude, für 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche wäre kein Platz. Wie werden die Schulen den Unterricht also organisieren? "Wir Eltern wissen immer noch nicht, was uns im September erwartet", sagt Nappi.

Auch an der Schule von Pina Arena auf Sizilien sind die Räume zum Lernen mit Abstand zu klein. "Wir werden die Klassen teilen müssen", sagt die Italienisch- und Geschichtslehrerin aus Catania. Das geht nur, wenn es neben dem Präsenzunterricht weiter Homeschooling gibt. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint das jedoch keiner zu wollen. Die chaotischen ersten Wochen ohne Richtlinien und Vorbereitung haben die Lehrkräfte ernüchtert. Danach habe man zwar zu einem passablen Modus gefunden, sagt Arena, doch viele schwächere Schüler seien vom Radar verschwunden.

Die Gründe gleichen denen in Deutschland. Mal mangelt es an elterlicher Unterstützung, mal am Internetanschluss oder Computer, mal am digitalen Knowhow der Lehrkraft. Laut einer Umfrage der geistlichen Gemeinschaft Comunità di Sant' Egidio in Rom haben dort 60 Prozent der Kinder nie Online-Unterricht gehabt. Wie hoch diese Zahl andernorts ist, weiß man nicht, doch Experten befürchten nichts Gutes: Wegen der Schulschließungen könnte es noch mehr Schulabbrecher geben als ohnehin schon; im europäischen Vergleich ist deren Quote in Italien besonders hoch.

Valentina Lorenzi hat noch ein weiteres Hindernis ausgemacht. Ihre Schüler seien "social", aber nicht unbedingt "technisch", sagt die Lehrerin über die Kinder an ihrer Mittelschule in Südtirol. Heißt: Jedes hat ein Smartphone, aber nicht jedes ein Laptop oder eine E-Mail-Adresse. In der Pandemie habe sie ihre Lehrmethoden daher mehrmals ändern müssen und sehr viel Zeit damit verbracht, Schülern und Eltern bei Technikproblemen zu helfen. Dadurch habe sie nicht nur deutlich mehr gearbeitet als in normalen Zeiten, sondern auch eins verstanden: "Die Digitalisierung ist nicht so weit, wie man denkt. Das Buch bleibt immer noch demokratischer."

© SZ vom 20.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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