Schulbeginn:Und jetzt alle

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Zu Schulbeginn bemisst Frankreich jedes Jahr sein Wohlbefinden: Wir viel wollen und können Eltern für ihre Kinder ausgeben? (Foto: AFP)

Ganz Frankreich kehrt an diesem Montag in den Alltag zurück, in die Schule, ins Büro. Ganz Frankreich? Ja. Über einen kollektiven Neubeginn, der zugleich ein kollektiver Kaufrausch ist.

Von Nadia Pantel

Das französische Grundgefühl dieser Tage pendelt zwischen Aufbruchstimmung und Melancholie, zwischen "Es geht wieder los!" und "Es geht wieder los ...". Nach einem langen Sommer beginnt die "Rentrée", also die Rückkehr in Schule und Büro. In Deutschland sind Weihnachten, Neujahr und vielleicht noch der "Tatort" am Sonntagabend die einzigen Momente im Jahr, in denen das Land sich zu einer gewissen Gleichzeitigkeit überreden lässt. In Frankreich hingegen ist das Ende des Sommers ein Ereignis, das wenig mit Temperaturen zu tun hat, sondern damit, dass alle dem gleichen Takt folgen. Am 3. September gehen für mehr als zwölf Millionen französische Schüler acht Wochen Sommerferien zu Ende. Und da zu all diesen Kindern Eltern gehören, die mit ihnen Urlaub machen oder wenigstens ein paar freie Tage einlegen, um die Kleinen zu betreuen, wächst sich diese millionenfache Rückkehr in den Alltag zu einem Phänomen aus, dem das ganze Land folgt.

Man muss nur an einem der letzten beiden Augustwochenenden auf der "Autoroute du Soleil", auf der Sonnenautobahn, die vom Mittelmeer zurück nach Norden führt, unterwegs sein, um zu verstehen, mit welcher Wucht sich das Land verschiebt. Es stehen nicht nur alle gemeinsam im Stau, die Autobahnraststätten werden zu kleinen Freizeitparks ausgebaut. Es gibt Schlafsäle, Basketballplätze, Fitness-Animationen, Kinderbetreuung und Leseecken im Schatten von Pinien. Ein enormer Aufwand, der sich lohnt, weil alle auf einmal vorbeikommen.

Und während sich die Sonne auf der Karosserie der anderen Stauteilnehmer spiegelt, bereitet das Autoradio auf das vor, was zu Hause wartet, auf die Rentrée also. In den Nachrichten geht es um die politische Rentrée, denn auch Minister, Präsident und Parlamentarier tun im August so, als drehe sich die Welt so langsam wie eine schlafende Katze in der Mittagshitze. Und in der Werbepause preisen Supermärkte besonders günstige Schulranzen, Federmäppchen und Sportschuhe an. Der kollektive Neuanfang - das ist auch ein kollektiver Kaufrausch. Frauenzeitschriften besprechen die aktuellen "Looks der Rentrée", Fitnessstudios bieten Sondertarife an, damit der Körper besser zur neuen Kleidung passt, und selbst wer auf all das verzichtet, kommt nicht umhin, den Kindern eine neue Schulausrüstung zu kaufen.

Am Preis der Rentrée bemisst Frankreich jedes Jahr sein Wohlbefinden. Was können und wollen sich die Menschen leisten, wenn es um ihre Kinder geht? Jedes Jahr veröffentlicht die Confédération Syndicale des Familles (CSF), ein Dachverband von Familienvereinen, wie viel der Schulbeginn die Familien im Durchschnitt kostet. In diesem Jahr gab es dabei eine Überraschung. Zum ersten Mal seit 2013 war der Preis der Rentrée nicht gestiegen, sondern im Vergleich zum Vorjahr um drei Prozent gesunken. Doch das lag nicht daran, dass Stifte und Sportbeutel auf einmal günstiger sind. Sondern daran, dass die Franzosen weniger Geld für ihre Kinder zur Verfügung haben. Der CSF sieht einen der Gründe der gesunkenen Kosten darin, dass die Lebenshaltungskosten insgesamt gestiegen sind: "Familien sind immer weniger bereit, Überflüssiges zu kaufen. Sie müssen genau auswählen, wofür sie Geld ausgeben."

Also geht der Trend dahin, nicht für jeden Herbst neue Markenklamotten zu kaufen. Eine Ausnahme machen die Franzosen allerdings für ihre jüngeren Kinder. Während die Ausgaben für Teenager sinken, steigen sie für Grundschüler. Gaben Eltern 2017 noch 149,76 Euro für den Schulstart eines Sechsjährigen aus, sind es 2018 165,70 Euro. Man kann es nicht nur an den Einkäufen ablesen: Je älter man wird, desto weniger enthusiastisch wird die Rückkehr in den Alltag begangen. Mit den Jahren wächst die Wehmut - auch bei der Rentrée. Für Kinder gibt es zahlreiche Bilderbücher, die beschreiben, wie schön es ist, wenn man nach den Ferien seine Freunde wieder trifft. Für Erwachsene gibt es Servicetexte, die erklären, wie man nach dem langen Urlaub mit Hunderten ungelesenen E-Mails umgeht.

Manche fragen sich: Sind acht Wochen Ferien nicht zu lang?

Und während in ganz Frankreich die Sommerbräune wieder ins Büro gesperrt wird, um langsam zu verblassen, stellen sich manche die Frage, ob acht Wochen Sommerferien eigentlich noch zeitgemäß sind. "Sind unsere Ferien zu lang?" fragt der Parisien. Denn die meisten französischen Schüler verbringen nur einen kleinen Teil der Ferien mit der Familie oder im Urlaub. Oft gehen sie tagsüber in dieselben städtischen Freizeitzentren, wo sie auch sonst, nach Schulschluss, darauf warten, dass ihre Eltern sie abholen. Auf 16 Ferienwochen kommen französische Schüler innerhalb eines Schuljahres, drei Wochen mehr als in Deutschland. Dafür dauern die einzelnen Unterrichtstage länger. Eltern und Schüler beschweren sich immer wieder über die vollgestopften Schulwochen einerseits und die schwierig zu organisierende Betreuung während der vielen Ferien andererseits. Doch ob sich etwas ändert? Der Parisien schreibt von einem "französischen Tabu": "Diese acht Wochen Sommerferien sind in Stein gemeißelt."

Die Synchronisierung der Sommerferien geht auf ein Gesetz von 1939 zurück. Zehn Wochen lang, von Mitte Juli bis Ende September, mussten französische Schüler nicht in den Unterricht. Stattdessen halfen sie bei Ernte und Weinlese. Mit dem Wirtschaftsaufschwung in den 50er-Jahren begann dann langsam die Zeit, in der die Familien gemeinsam ans Meer fuhren statt aufs Feld. Es dauerte 30 Jahre, bis sich die Schulen dieser Veränderung anpassten. Erst 1981 wurden die "großen Ferien" in "Sommerferien" umbenannt und um zwei Wochen gekürzt, die zwei Erntewochen im September fielen weg. Bildungsminister Jean-Michel Blanquer hat bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr zwar angekündigt, er werde die Dauer der Sommerferien zur Diskussion stellen. Aber noch lebt Frankreich einheitlich und gemeinsam die riesige Sommerpause.

© SZ vom 03.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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