Schon wenige Wochen nach der Einschulung fiel Christine Sczygiel auf, dass bei ihrer Tochter etwas nicht stimmen konnte: Das Mädchen besaß keine Vorstellungen von Mengen. Im Mathematikunterricht bereiteten ihr einfachste Aufgaben große Schwierigkeiten. Stundenlang übten Sczygiel und ihre Tochter mit Legobausteinen - ohne erkennbaren Erfolg. "Schließlich kam die Diagnose: Dyskalkulie. Da habe ich mich zunächst hilflos und überfordert gefühlt", erzählt sie.
Das ist mittlerweile 23 Jahre her - heute ist Sczygiel Vorsitzende des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie und setzt sich für die Belange von Betroffenen ein. "Je früher die Diagnose erfolgt, desto besser", sagt sie. Wichtig sei für Eltern zunächst einmal, zu verinnerlichen, dass die Rechenschwäche nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hat. Dyskalkulie ist eine Teilleistungsstörung, die - ähnlich wie Legasthenie - bei ansonsten normal begabten Schülern auftreten kann.
"Manche dieser Kinder leiden unter einer regelrechten Zahlenblindheit und haben beim Rechnenlernen größte Schwierigkeiten", sagt Professor Michael von Aster, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am DRK Klinikum Westend in Berlin. Er beobachtet, dass die Betroffenen zum Teil nicht in der Lage seien, Mengengrößen einzuschätzen, eine gesprochene Zahl zu verschriftlichen oder überhaupt akkurat zu zählen. Insgesamt seien etwa fünf Prozent der Grundschüler von Dyskalkulie betroffen.
"Pfiffige Kinder können ihre Dyskalkulie kaschieren"
Zu erkennen ist das Problem aber nicht unbedingt an falschen Ergebnissen im Mathematik-Unterricht. "Pfiffige Kinder können ihre Dyskalkulie in den ersten Grundschuljahren kaschieren, indem sie bestimmte Aufgaben einfach auswendig lernen oder immer die Finger zu Hilfe nehmen", sagt Michael Wehrmann, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Mathematisches Lernen in Braunschweig. Sichtbar werde die Rechenschwäche, wenn man beobachte, wie die Kinder zu ihren Ergebnissen kommen: "Wenn ein Schüler bei acht minus sieben die Acht erst mit den Fingern aufbauen muss und dann mühsam Schritt für Schritt rückwärts zählt, dann gibt es ein Problem", erklärt Wehrmann.
Für die Diagnostik werden laut Aster verschiedene Aspekte getestet: Kann das Kind eine Zahl, die es hört, aufschreiben? Kann es Mengen einschätzen? Ist es in der Lage, eine Zahl auf einem Zahlenstrahl räumlich richtig zu positionieren? "Dyskalkulie äußert sich bei jedem Kind unterschiedlich - bei manchen mag nur eine dieser Fähigkeiten gestört sein, bei anderen mehrere", erklärt Aster. Deshalb sei es wichtig, dass Förderunterricht oder Therapie individuell angepasst würden.
Laut Sczygiel besteht aber das Problem darin, dass Lehrer in ihrer Ausbildung kaum auf den Umgang mit Dyskalkulie vorbereitet werden. "Sie wissen viel zu wenig über mathematischen Erstunterricht. Dazu kommt, dass sich gerade Mathematiklehrer oft schwertun, die Schwierigkeiten des Kindes zu verstehen", kritisiert sie. Trotzdem seien Eltern auf die Kooperationsbereitschaft der Pädagogen angewiesen, denn in Deutschland gebe es keine flächendeckenden rechtlichen Regelungen zum Umgang mit Dyskalkulie - die Unterstützung für die betroffenen Kinder variiere von Bundesland zu Bundesland, berichtet Sczygiel. "Es müsste aber endlich verbindlich festgelegt werden, welche Formen von Nachteilsausgleich es für Schüler mit Dyskalkulie gibt", sagt sie. Das könne etwa sein, dass die Kinder für das Bearbeiten von Aufgaben mehr Zeit bekämen, weniger Aufgaben bearbeiten müssten oder den Taschenrechner benutzen dürften. Vor allem für auf das Kind abgestimmten Förderunterricht müsse gesorgt sein.
Weil das nicht in allen Schulen der Fall ist, wenden sich viele Eltern an außerschulische Therapieeinrichtungen oder an die Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Es ist Unsinn zu sagen, dass ein Kind mit Dyskalkulie niemals rechnen lernen wird. In der Therapie wird einfach so weit vorne im Schulstoff angesetzt wie nötig", erklärt Wehrmann. Interveniere man früh, sei der Abstand zu den Klassenkameraden noch nicht ganz so groß und könne schneller aufgeholt werden. In der Therapie werde den Kindern dann geholfen, eine Zahlenraumvorstellung zu entwickeln, erklärt Aster.
Rechentraining am PC
Oft verursachten die Probleme beim Rechnen Minderwertigkeitsgefühle, sagt Sczygiel. Betroffene Kinder würden von Klassenkameraden gemobbt. "Eltern sollten deshalb die Stärken ihres Kindes fördern und einen Ausgleich in der Freizeit anbieten", erklärt sie.
Michael von Aster hat zudem das Computerspiel "Calcularis" für Kinder mit Rechenschwäche mitentwickelt. Es passt sich dem individuellen Fähigkeitsprofil an und übt genau diejenigen Funktionen, bei denen es Schwierigkeiten gibt. Ein solches Spiel gab es vor 23 Jahren, als bei Sczygiels Tochter Dyskalkulie diagnostiziert wurde, noch nicht. Für sie war es damals schwierig, eine geeignete Therapie zu finden - am Ende klappte es doch. Heute ist die junge Frau in der Pflege tätig, Rechenaufgaben im Alltag meistert sie. "Nur beim Abschätzen von Zeiten oder Entfernungen ist sie noch immer unsicher", sagt ihre Mutter.