Mathematikum in Gießen:Mathe tanzen und spielen

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Mathe zum Anfassen: Mathematikum in Gießen (Foto: Mathematikum/Rolf K. Wegst)

Zwang und Angst, das assoziieren viele mit dem Matheunterricht. Dass das nicht so sein muss, beweist das Mathematikum Gießen. Hier lernen nicht nur Schüler - sondern auch Lehrer, was sie gegen das schlechte Image ihres Fachs tun können.

Von Sebastian Krass

Es ist zum Verrücktwerden, die Pyramide will einfach nicht hineinpassen in den Glaswürfel. Melih dreht sie noch einmal, diesmal nur ein bisschen, und steckt sie wieder auf den Würfel, der oben offen ist. Wieder nichts. Melih versucht es mit Gewalt, stemmt sich auf die Pyramide. Doch die Kraft des Fünftklässlers reicht nicht, um die Gesetze der Mathematik zu überwinden. Die Seiten der Pyramide sind länger als die des Würfels.

Als Melih kurz davor ist aufzugeben, klappt es dann doch. Er hat die Pyramide so gedreht, dass ihre Kante genau auf einer Linie mit der Diagonalen der Würfelfläche ist. Und schon ist sie in den Würfel gerutscht. Aus Verzweiflung wird ein zufriedenes Grinsen und ein bisschen Stolz. "War ganz schön schwierig, das richtig zu drehen", sagt der Junge.

"Körper", das ist das Thema dieses Museumsbesuchs von Melih und seinen Klassenkameraden aus einer Marburger Gesamtschule. Sie sind für einen Ausflug ins nahe Gießen gefahren, ins Mathematikum, ein Mitmach-Museum. Ein Ort, in dem man "Mathematik ohne Zwang und Angst erleben soll". So sagt es Albrecht Beutelspacher, Mathematik-Professor an der Uni in Gießen und Gründer des Museums.

"Klickmomente" statt Zwang und Angst

Hier gibt es keine Rechenaufgaben, nur kleine Experimente. "Sie sind nicht mit Glück oder Geduld zu lösen, es gibt einen kleinen Widerstand", erklärt Beutelspacher. "Und wenn man den überwindet, erlebt man einen Klickmoment." Ein Klick, der den Besucher der Mathematik ein Stück näher bringen soll. Dafür hat das 2002 eröffnete Mathematikum auch schon einige Preise bekommen. Es zieht Jahr für Jahr 150.000 Besucher an, im Schnitt etwa 400 am Tag.

"Zwang" und "Angst" - das sind zwei Worte, die viele Schüler mit dem Wort "Mathematik" assoziieren. Manche sehen da ihr Lieblingsfach verunglimpft ( wie auch Leser auf einen SZ.de-Aufruf im Rahmen diese Projekts monierten), aber für die Mehrheit ist Mathe ein "Angstfach". Es sei das "meistgehasste Fach in der Schule", schreibt der Stuttgarter Mathematik-Professor Christian Hesse in einem Gastbeitrag in der SZ .

Deutschlands Eltern geben - inklusive Schwarzmarkt - eine bis 1,5 Milliarden Euro im Jahr für Nachhilfestunden aus, schätzt der Bundesverband der Nachhilfe- und Nachmittagsschulen (VNN). "Und mehr als die Hälfte aller Stunden wird in Mathematik gegeben", sagt die VNN-Vorsitzende Cornelia Sussieck. Der Anteil ist seit Jahren stabil. Es läuft also offenbar einiges falsch in Deutschlands Schulen. Aber gibt es Veränderungswillen, Problembewusstsein in der Gesellschaft? Hesse erzählt: Man treffe oft auf Menschen, die "damit kokettieren, dass sie in der Schule immer schlecht in Mathe waren - und dass dennoch etwas aus ihnen geworden ist".

Kritiker monieren, der traditionelle Matheunterricht sei zu stark konzentriert auf die Einübung von Verfahren: Bruchrechnen, Gleichungen, Funktionen - eingepaukt und abgeprüft. Oft werde den Kindern Sinn und Zweck davon nicht verdeutlicht. Es fehle die Freiheit, die Schüler Mathematik erleben zu lassen und ihnen damit beim Verstehen zu helfen. "In jedem Kirchturm, in jedem Verkehrszeichen steckt Mathe", sagt Albrecht Beutelspacher.

Im Eingang des Mathematikums liegt ein großer roter Teppich, "Mathe macht glücklich" steht darauf. Als ein Mädchen, neunte Klasse, das sieht, fasst sie sich ungläubig an den Kopf und dreht sich ab. Da könnte auch stehen: "Staubsaugen macht glücklich", das wäre genauso abwegig. Zita Sprengard ist Lehrerin an einer Gesamtschule im Landkreis Marburg-Biedenkopf und ist heute mit der neunten Klasse zu Besuch. Sie weiß um das Problem, das ihr Fach hat. Denn selbst wenn man sich noch so schöne Konzepte und Museen ausdenkt, ein Problem bleibt: Schule ist Schule, Mathe findet in der Schule statt, und Schule klaut Lebenszeit.

So denken viele junge Menschen. Und das ist der Rahmen, in dem Lehrer sich bewegen und in dem sie Lösungen finden müssen - besonders für den Matheunterricht. "Wir versuchen verstärkt, andere Unterrichtsformen zu finden", sagt Sprengard. Vergangenes Schuljahr nahm sie die Berechnung von Körpern durch. "Da haben wir den Schülern die Aufgabe gestellt, dass sie wie in einem Designbüro eine Verpackung entwerfen und bauen sollen, für einen Liter Fruchtsaft. Und sie mussten zeigen, wie sie das berechnet haben. Da kamen tolle Sachen raus, am Ende hatten wir eine Ausstellung in der Schule."

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Wer sich mit Zahlen nicht auskennt, wird früher oder später übers Ohr gehauen - heute mehr denn je. Umso bedenklicher, dass Mathe das meistgehasste Schulfach ist. Damit Kinder Lust am Rechnen haben, braucht es alltagsnahen Unterricht - und Schach.

Ein Gastbeitrag von Christian Hesse

In diesem Jahr geht sie mit ihrer Klasse das Thema "Funktionen" an. Sie ist jetzt, zu Beginn des Schuljahres, ins Mathematikum gekommen, um einen Einstieg zu finden. Hier geht das spielerisch: An einer Station entsteht per Knopfdruck auf einem Bildschirm ein Graph, der zwischen den Werten 0 und 4 schwankt. Mal verläuft er eher weich und kurvig, mal in Stufen. Auf dem Boden vor dem Bildschirm liegt ein Meterband von 0 bis 4, das registriert, wo die Schüler stehen. Ein zweiter Graph gibt die Bewegung der Schüler wieder.

Sie müssen sich nun so positionieren, dass dieser Graph möglichst genau dem ersten folgt - das sieht aus, als würden sie tanzen. Wenn der Graph steil abfallen soll, von der 4 zur 1, dann hüpfen sie von hinten nach vorn. Wenn er ganz sanft steigt von der 2 zur 3, dann schleichen sie zurück. Und wenn der Graph parallel zur x-Achse verlaufen soll, dann bleiben sie auf der 1 stehen. So erleben die Kinder am eigenen Leib, wie abhängige und unabhängige Variable einer Funktion zusammenhängen.

Nach zwei Stunden ist der Besuch im Mathematikum vorbei. Ob und was hängenbleibt, wird das Schuljahr zeigen. Zita Sprengard hat sich jedenfalls vorgenommen, im Unterricht Bezüge zu den Erlebnissen im Mathematikum herzustellen.

Mathelehrer als Herren über richtig und falsch?

Das sei die richtige Strategie, sagt Kristina Reiss, die an der Technischen Universität (TU) München Mathelehrer ausbildet. Sie schätzt Einrichtungen wie das Mathematikum in Gießen, die entsprechende Abteilung des Deutschen Museums in München oder das Erlebnisland Mathematik in Dresden, sagt aber: "Mit einem Besuch im Jahr wird man kein nachhaltiges Interesse bei Kindern wecken. Staunen allein macht auch nicht klüger." Entscheidend sei die Nachbereitung im Unterricht, und das sei Aufgabe der Lehrer. Sie kritisiert aber auch: "Das passiert noch zu selten."

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Rosen ohne Köpfe und unfaire Noten, aber auch viel Engagement: Schulzeit-Nostalgien sind ohne Anekdoten aus dem Matheunterricht kaum denkbar. SZ.de-Leser erinnern sich an gute und schlechte Zeiten mit Algebra, Geometrie & Co.

Denn nicht nur ihr Fach, auch die Lehrer sind in einer schwierigen Rolle. "Mathematik ist die Wissenschaft, in der am klarsten zwischen richtig und falsch unterschieden wird", sagt Mathematikum-Direktor Beutelspacher. "Das ist gut, aber auch unbarmherzig. Es besteht die Gefahr, dass der Lehrer zum Herren über richtig und falsch wird. Macht erzeugt Angst." Und damit letztlich ein "Angstfach".

Seit Langem wird diskutiert, wie man Mathe von seinem schlechten Ruf befreien kann. Die Mathelehrer-Ausbilder Beutelspacher und Reiss betonen, es sei viel passiert, der Unterricht sei heute schon deutlich anschaulicher als vor 20 Jahren. Die Anwendung selbst spielt inzwischen eine größere Rolle. "Es gibt mehr offene Aufgaben. Das Ziel, die Schüler am Lernen zu beteiligen, ist viel besser verankert", sagt Beutelspacher. Das mäßige Abschneiden Deutschlands in der ersten Pisa-Studie von 2000 sei "ein heilsamer Schock" gewesen, behauptet Beutelspacher. Gerade in den unteren Klassenstufen laufe es schon recht gut, findet Reiss, etwa mit dem Spielerischen. "Die Probleme beginnen in der Pubertät, da wird Mathematik abstrakter, zugleich haben die Schüler eine schwierige persönliche Phase, da werden viele abgehängt."

Kritiker fordern nach wie vor, man müsse das Fach noch näher ans Leben der Schüler heranrücken, sich dafür auch mehr Zeit nehmen und lieber auf Inhalte aus der höheren Mathematik verzichten. Ein heikles Thema. Denn in der Theorie soll ja jeder Abiturient in der Lage sein, jedes Fach zu studieren. Leiter von Ingenieursstudiengängen klagen heute schon, dass Erstsemestern oft Grundlagen fehlten. Und auch für Fächer wie Psychologie und Soziologie braucht es höhere Mathematik.

Man habe schon einiges über Bord geworfen, sagt Reiss, die Kegelschnitte in der Oberstufe zum Beispiel. Man brauche sie nicht dringend, auch wenn sie ein gutes Beispiel seien, um mathematisch Zwei- und Dreidimensionalität zusammenzubringen. "Wir müssen angemessen auf die Zeit nach der Schule vorbereiten und zugleich die Anwendung im Sinn haben", sagt Reiss. "Den Spagat müssen wir hinbekommen." Ihr Stuttgarter Kollege Hesse warnt: "Wir können es uns nicht leisten, Generationen von Schülern den Spaß an der Mathematik zu vergraulen und viele mit einer Mathephobie ins Leben zu entlassen."

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