Plattdeutsch an Grundschulen:"Na? Udslopen?"

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An einigen Hamburger Grundschulen lernen Kinder inzwischen wieder Platt. Doch für das ehrgeizige Pilotprojekt fehlen oft Lernmittel und Lehrer. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Schüler schon mit der hochdeutschen Sprache genug Probleme haben. Ein Besuch im Klassenzimmer.

Charlotte Frank

Bis drei kann ja jeder. Die Alten in Hamburg sowieso, weil sie Plattdeutsch eben noch gesprochen haben, und die Jüngeren, weil es in dieser Stadt seit den Neunziger jahren kaum möglich ist, den Hit "Nordisch by Nature" der Gruppe Fettes Brot nicht zu kennen. Das Lied startet mit dem denkwürdigen Reim: "Een, twee - een, twee, dree/ sech mal he!"

Franka-Maria, Igor, Emirhan und die anderen in Anja Meiers Klasse kommen viel weiter. Sie sitzen in einem Stuhlkreis in der Mitte eines geräumigen Klassenraums der Aueschule Finkenwerder und zählen der Reihe nach: "Een", sagt Franka-Maria. "Twee", sagt Igor, Emirhan ruft: "Dree". Weiter geht es, ein Kind nach dem nächsten: "Veer, fief, sös, söben, acht, negen, tein." Bis zehn. So viele Erst- und Zweitklässler lernen an der Grundschule in Finkenwerder Plattdeutsch. Keine große Zahl, und trotzdem ein großer Schritt.

Finkenwerder ist ein Stadtteil von Hamburg, ganz am Rand, am Südufer der Unterelbe. Hier gibt es noch Reetdachhäuser, freie Blicke auf den Deich und Menschen in Trachtengruppen und Kulturvereinen. Und solche, die Platt sprechen, mehr jedenfalls als sonst in Hamburg. Naheliegend also für die Schulbehörde, die Aueschule zur Pilotschule zu machen. Zu einer von zehn, an denen Niederdeutsch mittlerweile auf dem Stundenplan steht.

"Plattdüütsch is min Modersprook" - Lehrerin Anja Meier versucht es auf die spielerische Art. Sie unterrichtet mit der schnackenden Stoffpuppe Fietje. (Foto: Samuel Zuder)

Das klingt erst mal gut, denn die alte Sprache ist vom Aussterben bedroht - obwohl die Hamburger sie, nachdem sie sie den Alten ausgetrieben haben, heute wieder ehren und lieben und ihr viel Prestige beimessen. Es gibt Bücher auf Platt, Zeitungsartikel, Radioformate, Werbung, Bands - und doch beherrscht die Sprache in Hamburg nur noch etwa jeder Zehnte fließend. Die meisten anderen können sie nur verstehen oder haben von ihren Großeltern ein paar Brocken gelernt.

In vielen Regionen des restlichen Sprachgebiets, das sich über Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen erstreckt, ist das Niederdeutsche noch seltener geworden. Dabei ist Deutschland Mitglied der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen, in der es sich verpflichtet, Sorbisch, Romanes, Friesisch, Dänisch und eben Niederdeutsch zu fördern und zu unterrichten. Niederdeutsch stufen Linguisten ausdrücklich als Regionalsprache ein, nicht als Dialekt. Die meisten Bundesländer nehmen das Ziel locker. Hamburg nicht. Seit August 2010 läuft dort die ehrgeizige Sprachpflege an Schulen.

"Goden Morgen. Ik heet Fietje. Ik bün söben Johr old", sagt Frau Meier. Auf ihrer Hand sitzt eine Stoffpuppe mit Ringelpullover, Schirmmütze und gelben Wollhaaren, die Frau Meier durch die Luft wackeln lässt, auf Emirhan zu: "Un wer büst du?" Emirhan, nach einem tiefen Gähner, blickt die Puppe erstaunt an. "Die Puppe hat gesagt, dass sie Fietje heißt und sieben Jahre alt ist", erklärt die Lehrerin. "Und du?" - "Ik heet Igor. Ik bün sös", brüllt sein Nachbar dazwischen. Er kennt das mit Fietje schon. Das ist gut, weil Frau Meier Fietje nun klatschen lässt, woraufhin Igor vom Stuhl hüpft und sich auf die Brust trommelt. Das ist aber auch schlecht.

"Die alte Regierung in Hamburg hat sich mit dem Projekt weit aus dem Fenster gelehnt", sagt Anja Meier. Denn die frühere schwarz-grüne Koalition hatte es sehr eilig mit dem Plattdeutsch-Projekt. So konnte Hamburg sich zum Start zwar rühmen, als erstes Bundesland Plattdeutsch als eigenständiges Fach im Lehrplan verankert zu haben. Die Behörde konnte auch stolz verkünden, Niederdeutsch könnte langfristig Abiturfach werden - doch dann gingen die Stunden los, ohne dass es genug Unterrichtsmaterial gab. Bis heute fehlen Bücher, Arbeitshefte, Lernspiele. Erst seit 2011 sind die Fietje-Handpuppe und das dazugehörige "Arbeitsbook 1" auf dem Markt. Die Stofffigur tanzt nun immer wieder durch den Unterricht - die Pädagogen müssen sich da schon viel einfallen lassen, wenn sie Stunden halbwegs abwechslungsreich gestalten wollen.

Das alles wäre ja zu verkraften - fehlten nicht auch noch: die Lehrer.

An der Universität Hamburg können Studenten das Fach Niederdeutsch belegen; Bewerber, die diese Qualifikation mitbringen, werden heute bevorzugt eingestellt. Und doch gibt es zu wenige von ihnen; bis 2010 brauchte sie ja keiner. Einige der Pilotschulen müssen sich deshalb mit "Plattsnackers" behelfen: Ehrenamtliche, die Niederdeutsch sprechen, aber keine Lehrerausbildung haben. In Finkenwerder aber haben sie Glück. Anja Meier, 52 Jahre alt, zitronengelbe Bluse, ein Miniatur-Leuchtturm als Kettenanhänger, ist Lehrerin für Englisch, Mathematik und Sport. Und sie sagt über sich: "Plattdüütsch is min Modersprook." Ihre Muttersprache. In ihrer Familie werde ausschließlich Plattdeutsch gesprochen, und genauso hält sie es im Unterricht.

Es ist Montagmorgen, acht Uhr, nach und nach trudeln an der Aueschule die verschlafenen Schüler ein. "Na? Udslopen?", fragt sie jeden, die Kinder nicken, was bei den meisten gelogen wirkt - "udslopen" heißt "ausgeschlafen". Die Lehrerin sagt ihnen auf Platt, wohin sie sich setzen sollen, welche Stifte sie brauchen. Die Kleinen antworten zwar auf Hochdeutsch, aber sie verstehen, was Frau Meier will. Und als sie sich später auf den Boden setzen, zum Brettspiel "Minsch arger Di nich", da rutschen ihnen beim Würfeln immer wieder Sätze raus wie: "Mist. Nur eine Een." Oder: "Sös! Ich darf noch mal!"

"Das Ziel in der Grundschule ist nicht, dass die Kinder fließend Platt sprechen und schreiben", sagt Anja Meier. "Sie sollen sich an die Sprache gewöhnen und ein Hörverständnis entwickeln." Fast wortgleich steht es im Hamburger Bildungsplan. Kein Wunder: Meier hat im Auftrag der Behörde die Niederdeutsch-Rahmenpläne für Grundschüler federführend entwickelt. Sie ist außerdem Autorin des Fietje-Buchs, sie hat viel für das Niederdeutsche an Hamburgs Schulen getan. Trotzdem sieht sie das ganze Projekt kritisch: "Wenn man wirklich will, dass Kinder Plattdeutsch lernen, dann muss man da richtig Geld reinstecken. Und Zeit."

Auch Martin Kunstreich tut sich eher schwer mit dem neuen Fach. "An sich ist das eine schöne Idee", sagt der Schulleiter der Aueschule, "aber sie geht von falschen Vorstellungen aus." Längst spiele Plattdeutsch selbst im Finkenwerder Alltag keine große Rolle mehr; nur noch eine Handvoll der 220 Kinder der Aueschule würden die Sprache von zu Hause kennen. Selbst in dem eher ländlich geprägten Stadtteil haben inzwischen ungefähr ein Drittel der Schüler einen Migrationshintergrund. Vielen von ihnen müssen sie in der ersten Klasse erst einmal richtig Hochdeutsch beibringen. Und jetzt auch noch Plattdeutsch.

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Das haben sie an der Aueschule nun anders gelöst: Montagfrüh ist hier "Schatz"-Zeit, kurz für "Schüler-Arbeits-Zeit". In diesen Stunden können die Lehrer je nach Begabung festlegen, was welcher Schüler tut. Besonders sprachbegabte Kinder kommen zu Anja Meier. Da sitzen sie nun im Kreis um die Lehrerin, die zum Schluss der Stunde ihre Gitarre gegriffen hat. Sie singen, sehr schief und laut: "Snack mal wedder platt/ ja, ik würd so gern/ Du, in Land und Stadt/ öfter Plattdüütsch hörn'."

© SZ vom 01.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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