Irgendjemand muss immer den Anfang machen. In diesem Fall ist es Baden-Württemberg. Das Bundesland führt zum Schuljahr 2016/17 das Schulfach Wirtschaft ein. Genauer gesagt das Fach "Wirtschaft und Berufsorientierung". Ab der siebten, in Gymnasien ab der achten Klasse wird es in allen weiterführenden Schulen Pflicht. In Gymnasien drei Stunden pro Woche, in Real- und Gemeinschaftsschulen sogar fünf Wochenstunden.
Bislang waren Wirtschafts- und Finanzthemen in Baden-Württemberg in Fächern wie "Sozialwissenschaften" oder "Wirtschaft und Politik" verankert. Viel Platz im Lehrplan wurde ihnen dort jedoch nicht eingeräumt - und dementsprechend gering fallen die Wirtschaftskenntnisse vieler Schüler aus. In der Politik wird deshalb schon seit Längerem darüber diskutiert, ob Wirtschaft als eigenständiges Schulfach zu etablieren ist. In die Öffentlichkeit rückte die Debatte zuletzt im Januar, als eine 17-jährige Schülerin über den Nachrichtendienst Twitter verbreitete, sie habe keine Ahnung von Steuern oder Versicherungen - könne aber eine Analyse auf vier verschiedenen Sprachen verfassen.
Neues Schulfach in Baden-Württemberg:Lernen fürs Leben
Erst kürzlich hatte der Tweet einer Schülerin eine deutschlandweite Debatte über den Sinn und Unsinn des Schulunterrichts in Bewegung gesetzt. Baden-Württemberg führt nun ein Pflichtfach Wirtschaft und Beruf ein - andere Bundesländer könnten folgen.
Streit über Inhalte
Die Forderung nach besserer wirtschaftlicher Bildung bei Schülern ist nicht neu. Genauso wenig wie der Streit darüber, wie das Fach im Detail aussehen soll. Arbeitgeberverbände sind für eine rein ökonomische Ausrichtung, die ausschließlich aus Inhalten der Volks- und Betriebswirtschaftslehre besteht.
Soziologenverbände und Institutionen wie die Bundeszentrale für politische Bildung sprechen sich hingegen für einen soziologisch-ökonomischen Ansatz aus, bei dem wirtschaftliche Fragen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet werden. Und Elternverbände wollen eigentlich nur, dass das Fach möglichst praktisch ausgerichtet ist und ihre Kinder dabei "etwas fürs Leben lernen".
Nun hat das baden-württembergische Bildungsministerium einen 28 Seiten langen Bildungsplan ausgearbeitet, in dem steht, welche Inhalte das künftige Schulfach Wirtschaft beinhalten soll.
Kaum Praxis im neuen Bildungsplan
Die Forderung nach praktischen Elementen scheint die beauftragte Arbeitsgruppe dabei jedoch aus den Augen verloren zu haben. Denn weder die Freiheiten des Europäischen Binnenmarktes noch die Instrumente der Verbraucherpolitik oder die Interessen von Kreditgebern passen so richtig in die Lebenswelt eines 13-Jährigen.
Wirklich praktische Elemente enthält der Bildungplan kaum. Und wenn doch einmal praktische Dinge wie eine Rechnung, ein Kredit oder ein Kaufvertrag auf dem Bildungsplan stehen, so sind sie stets mit dem Zusatz "Methodenkompetenz" versehen. Nur sieben der knapp 50 Elemente des Bildungsplans sollen wirklich "Handlungskompetenz" vermitteln. Wie man eine Steuererklärung ausfüllt, wird den Schülern also auch in Zukunft nicht beigebracht.
Natürlich handelt es sich bei Bildungsplänen üblicherweise nur um eine Auflistung von Inhalten. Die Ausgestaltung des Faches ist ja immer auch eine Sache des Lehrers. Es bleibt aber die Frage: Wer soll dieses Wirtschaftsfach, das bisher nie mehr als eine Alternative zu Politik oder Geschichte war, eigentlich unterrichten? Und mit welchen Materialien? Nicht zu Unrecht befürchtet der Professor für Soziologie Tim Engartner eine Einflussnahme von Unternehmen. Denn ein richtiges Lehrbuch gibt es bislang nicht.
Auch bei den Lehrern hält man von dem neuen Fach nicht besonders viel. Man sei zwar "überhaupt nicht wirtschaftsfeindlich", sagt Bernd Saur vom Philologenverband Baden-Württemberg. "Aber man darf Wirtschaft nicht von politischen, ethischen und sozialen Inhalten trennen." Bei dem neuen Fach gebe es diese Trennung jedoch. Und die Lehrer halten sie für gefährlich. "Das sehen Sie doch an TTIP oder der Euro-Krise, dass Wirtschaft in einem größeren Kontext gesehen werden muss", sagt Saur.
Entkopplung von Geisteswissenschaften
Außerdem hält er es für problematisch, dass die Fächer Politik und Wirtschaft für die Lehrer an den Universitäten nicht mehr gemeinsam, sondern getrennt gelehrt werden. Lehrer, die Wirtschaft studiert haben, seien laut Philologenverband deshalb "weniger in der Lage, Wirtschaft in den gesellschaftlichen Kontext einzuordnen". "Ebenfalls absurd" sei es aber auch, dass zukünftige Politiklehrer keine wirtschaftlichen Inhalte im Studium mehr lernen müssten.
Es ist aber nicht nur die Entkoppelung von den geisteswissenschaftlichen Fächern, die die Lehrer stört. Besonders entrüstet ist der Verband darüber, dass innerhalb des neuen Fachs auch die "berufliche Orientierung" gelehrt werden soll. "Dies suggeriert, dass man nur in der Wirtschaft Karriere machen kann", sagt Saur. "Was ist denn mit den sozialen oder den künstlerischen Berufen? Braucht die etwa keiner?"
"Es gilt das Prinzip Angebot und Nachfrage"
Bei den Schülern scheint das Fach Wirtschaft hingegen gut anzukommen. In der gymnasialen Oberstufe, wo Wirtschaft bereits vielerorts als separates Unterrichtsfach angeboten wird, ist es zumindest sehr beliebt. Am Ulmer Keppler-Gymnasium führt das gar so weit, dass zuletzt keine Leistungskurse für Geschichte und Gemeinschaftskunde mehr zustande kamen - dafür aber gleich zwei für das Fach Wirtschaft. "Wir mussten auch schon viele Schüler ablehnen, die Wirtschaft machen wollten", sagt Schulleiterin Brigitte Röder. "Wir haben gar nicht genug Plätze und Lehrer dafür."
Dass kein Leistungskurs für Geschichte mehr zustande kommt, findet Röder zwar schade. Trotzdem müsse man den Wunsch der Schüler akzeptieren, sagt sie. "Wir leben eben in einer Marktwirtschaft. Und da gilt das Prinzip Angebot und Nachfrage." Röder wundert sich jedoch, dass ausgerechnet die grün-rote Landesregierung nun das Fach Wirtschaft für die Sekundarstufe eins will. "Wenn die CDU das eingeführt hätte", sagt sie, "dann hätte es sicher Proteste gegeben".