Maria Dünßer hat den Nachmittag, an dem sie in ihrer Musikschule in Kempten eine wegweisende Entdeckung macht, genau vor Augen: Ein Mädchen, Linkshänderin, sitzt mit ihrer Gitarre ratlos vor einer Tabulatur. Eigentlich sollen die Linien mit den Zahlen der Schülerin helfen, die richtigen Saiten zu greifen. Aber die 14-Jährige ist verwirrt. Dünßer wagt einen Versuch und legt ihr eine spiegelverkehrte Version der Tabulatur vor. Das Mädchen setzt die Finger konzentriert und korrekt auf die Saiten.
Die Idee war der staatlich geprüften Musikpädagogin gekommen, als sie ein Lehrbuch für Linkshänder las. Das Cover zeigte handgeschriebene Wörter in Spiegelschrift. Dünßer kombinierte: Eine Linkshänderin, die ihre Gitarre mit der rechten Hand hält und von rechts nach links in die höheren Lagen wechselt, kann vielleicht auch die Tabulatur von rechts nach links lesen, spiegelverkehrt.
Fast acht Jahre liegt Dünßers Entdeckung zurück, jetzt will sie vorstellen, was sie in der Zwischenzeit entwickelt hat. "Perspektiv-Training" heißt ihre Methode, für die sie im November auf der Interpädagogica-Messe in Graz eine Broschüre vorlegt. Das Training hilft Rechts- wie Linkshändern, Probleme beim Lesen und Schreiben zu überwinden. Denn Dünßer spiegelt längst nicht mehr nur Noten: Sie hat ihre Erkenntnisse auf die Schrift übertragen.
Als sich herausstellte, dass eine von Dünßers Musikschülerinnen, eine Rechtshänderin, nicht nur Noten, sondern auch Liedtexte leichter in Spiegelschrift lesen konnte, begann Dünßer, das Mädchen gezielt anzuleiten. Wörter lesen, Wörter schreiben, alles spiegelverkehrt. Nach kontinuierlich schlechten Leistungen im Deutschunterricht brachte das Mädchen eines Tages eine Eins in einem Diktat nach Hause. Dünßer, die eigentlich immer nur Klavier spielen wollte und ihre Heimat Mexiko verlassen hatte, um am Richard-Strauss-Konservatorium in München zu studieren, begann, auch mit anderen Kindern zu trainieren. Die Wörter machten den Noten immer mehr Konkurrenz. Um sich ein professionelles Fundament zu geben, nahm Dünßer an der Fernuniversität Hagen ein Studium der Bildungswissenschaft auf.
Rund acht Millionen Deutsche können nicht flüssig und sinnerfassend lesen, schätzt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BLV). Experten haben ermittelt, dass von einhundert Kindern vier bis sechs eine isolierte Lesestörung haben, fünf bis sieben eine isolierte Rechtschreibstörung und zwei bis vier eine Kombination aus beidem. Schüler mit Schreibproblemen lassen Buchstaben weg, fügen welche hinzu oder verdrehen sie.
Bis ans Ende der ersten Klasse konnte Moritz mit Buchstaben nichts anfangen
Maria Dünßer trainierte bald mit 60 Kindern aus drei Allgäuer Grundschulen. In Gruppen von vier oder fünf durchschritten sie den Übungsraum in wechselnden Richtungen, um Orientierung am eigenen Körper zu erfahren. Sie legten Stäbchen von der Spiegelachse in der Mitte eines Blattes aus in beide Richtungen, später Buchstaben. Sie fuhren mit dem Stift gespiegelte Buchstaben nach, lernten kurze Wörter linksherum zu lesen und zu schreiben. Sie lasen Liedtexte und - was den Effekt anscheinend nachhaltig verstärkt - sangen sie auch. Es folgten komplexere Texte, bis das Lesen und Schreiben auch in der konventionellen Richtung klappte.
Einer der Schüler war Moritz. Bis ans Ende der ersten Klasse konnte er mit Buchstaben nichts anfangen, zu Hause flossen Tränen der Verzweiflung. Heute, mit elf, wirkt Moritz gelassen, wenn er zurückdenkt: "Lesenlernen war für mich der pure Stress." Nach geringen Fortschritten bei einer Logotherapeutin wechselte Moritz in Dünßers Spiegelkabinett. Plötzlich leuchteten ihm die Zeichen ein. Sie erschienen ihm so klar, dass er der Mutter gegenüber zornig darauf beharrte, in der Schule werde genauso geschrieben wie bei Frau Dünßer.