Süddeutsche Zeitung

Legasthenie:Gegen den Strom schreiben

Mit Musiknoten fing es an, dann wurde ein Training für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche daraus. Wie Musikpädagogin Maria Dünßer Legasthenikern hilft.

Von Christian Bleher

Maria Dünßer hat den Nachmittag, an dem sie in ihrer Musikschule in Kempten eine wegweisende Entdeckung macht, genau vor Augen: Ein Mädchen, Linkshänderin, sitzt mit ihrer Gitarre ratlos vor einer Tabulatur. Eigentlich sollen die Linien mit den Zahlen der Schülerin helfen, die richtigen Saiten zu greifen. Aber die 14-Jährige ist verwirrt. Dünßer wagt einen Versuch und legt ihr eine spiegelverkehrte Version der Tabulatur vor. Das Mädchen setzt die Finger konzentriert und korrekt auf die Saiten.

Die Idee war der staatlich geprüften Musikpädagogin gekommen, als sie ein Lehrbuch für Linkshänder las. Das Cover zeigte handgeschriebene Wörter in Spiegelschrift. Dünßer kombinierte: Eine Linkshänderin, die ihre Gitarre mit der rechten Hand hält und von rechts nach links in die höheren Lagen wechselt, kann vielleicht auch die Tabulatur von rechts nach links lesen, spiegelverkehrt.

Fast acht Jahre liegt Dünßers Entdeckung zurück, jetzt will sie vorstellen, was sie in der Zwischenzeit entwickelt hat. "Perspektiv-Training" heißt ihre Methode, für die sie im November auf der Interpädagogica-Messe in Graz eine Broschüre vorlegt. Das Training hilft Rechts- wie Linkshändern, Probleme beim Lesen und Schreiben zu überwinden. Denn Dünßer spiegelt längst nicht mehr nur Noten: Sie hat ihre Erkenntnisse auf die Schrift übertragen.

Als sich herausstellte, dass eine von Dünßers Musikschülerinnen, eine Rechtshänderin, nicht nur Noten, sondern auch Liedtexte leichter in Spiegelschrift lesen konnte, begann Dünßer, das Mädchen gezielt anzuleiten. Wörter lesen, Wörter schreiben, alles spiegelverkehrt. Nach kontinuierlich schlechten Leistungen im Deutschunterricht brachte das Mädchen eines Tages eine Eins in einem Diktat nach Hause. Dünßer, die eigentlich immer nur Klavier spielen wollte und ihre Heimat Mexiko verlassen hatte, um am Richard-Strauss-Konservatorium in München zu studieren, begann, auch mit anderen Kindern zu trainieren. Die Wörter machten den Noten immer mehr Konkurrenz. Um sich ein professionelles Fundament zu geben, nahm Dünßer an der Fernuniversität Hagen ein Studium der Bildungswissenschaft auf.

Rund acht Millionen Deutsche können nicht flüssig und sinnerfassend lesen, schätzt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BLV). Experten haben ermittelt, dass von einhundert Kindern vier bis sechs eine isolierte Lesestörung haben, fünf bis sieben eine isolierte Rechtschreibstörung und zwei bis vier eine Kombination aus beidem. Schüler mit Schreibproblemen lassen Buchstaben weg, fügen welche hinzu oder verdrehen sie.

Bis ans Ende der ersten Klasse konnte Moritz mit Buchstaben nichts anfangen

Maria Dünßer trainierte bald mit 60 Kindern aus drei Allgäuer Grundschulen. In Gruppen von vier oder fünf durchschritten sie den Übungsraum in wechselnden Richtungen, um Orientierung am eigenen Körper zu erfahren. Sie legten Stäbchen von der Spiegelachse in der Mitte eines Blattes aus in beide Richtungen, später Buchstaben. Sie fuhren mit dem Stift gespiegelte Buchstaben nach, lernten kurze Wörter linksherum zu lesen und zu schreiben. Sie lasen Liedtexte und - was den Effekt anscheinend nachhaltig verstärkt - sangen sie auch. Es folgten komplexere Texte, bis das Lesen und Schreiben auch in der konventionellen Richtung klappte.

Einer der Schüler war Moritz. Bis ans Ende der ersten Klasse konnte er mit Buchstaben nichts anfangen, zu Hause flossen Tränen der Verzweiflung. Heute, mit elf, wirkt Moritz gelassen, wenn er zurückdenkt: "Lesenlernen war für mich der pure Stress." Nach geringen Fortschritten bei einer Logotherapeutin wechselte Moritz in Dünßers Spiegelkabinett. Plötzlich leuchteten ihm die Zeichen ein. Sie erschienen ihm so klar, dass er der Mutter gegenüber zornig darauf beharrte, in der Schule werde genauso geschrieben wie bei Frau Dünßer.

Das passierte im zweiten Schuljahr tatsächlich: Die Lehrerin beschloss, diese sonderbare, aber irgendwie funktionierende Methode auszuprobieren, und reichte Moritz den Lesestoff gespiegelt. Sie erinnert sich: "Bei ihm hat es plötzlich Klick gemacht." Als Mitschüler irritiert auf Moritz' Extrawurst reagierten, lehnte er die Hilfestellung in der Schule ab, machte aber in der Musikschule weiter. Obwohl ein Kinder- und Jugendpsychiater ihm eine massive Lese- und Rechtschreib-Störung attestierte, konnte Moritz gegen Ende der dritten Klasse durchschnittlich gut lesen und schreiben. Er schaffte den Übertritt auf die Realschule und gehört inzwischen, ausweislich seiner Zeugnisse, zu den Besten im Fach Deutsch. Seine Mutter bezeichnet ihn strahlend als "echte Leseratte".

Namhafte Professoren, die Dünßer über ihre Erfolge informierte und um eine Evaluation bat, winkten ab. Der Münchner Grundschulpädagoge Joachim Kahlert ebenso wie der Psychiater Manfred Spitzer oder Gerd Schulte-Körne. Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LMU München hat den BLV 20 Jahre wissenschaftlich beraten und kürzlich ein Online-Programm für rechtschreibschwache Kinder mitentwickelt. Er sagt, ihm würden immer wieder neue Methoden zur Prüfung vorgelegt, doch in der Regel vermisse er den sauberen Nachweis der Wirksamkeit nach den anerkannten wissenschaftlichen Kriterien. Dafür, dass ein Fortschritt bei LRS tatsächlich aufs Spiegeln zurückzuführen sei, sieht er "keine Evidenz".

Dünßer sind ihre erfahrungsbasierten Werte Beweis genug. Zudem verweist sie auf neurobiologische Untersuchungen, die erklären könnten, was es mit ihrer Entdeckung auf sich hat: Rüdiger Ilg vom Münchner Klinikum rechts der Isar hat zum Beispiel nachgewiesen, dass schon nach zwei Wochen Lesen gespiegelter Schrift "die Dichte der grauen Substanz im Okzipitallappen steigt". Vereinfacht ausgedrückt werden im Hirn Areale aktiviert, die neue Strukturen zur Verarbeitung von Schriftzeichen entstehen lassen.

Auch durch Fachpublikationen des Psychologen Jean-Paul Fischer von der Universität Nancy sieht sich Dünßer bestätigt: Der Professor erklärt darin, warum der Mensch von Natur aus für beide Richtungen offen ist und dass Kinder ohne Weiteres gespiegelt von rechts nach links schreiben können - wenn sie die Wahl haben, wo auf dem Blatt sie das erste Wort ansetzen dürfen. An der Beliebigkeit der Schreibrichtung und dem unwillkürlichen Spiegeln sei auch nichts auszusetzen. Es handle sich um eine Veranlagung. Dünßer ergänzt: vielleicht sogar um ein Potenzial.

Sogar in der Antike findet die Musikpädagogin Argumente für ihre Methode. Griechen und Römer sollen zunächst linksläufig und noch bis ins dritte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung "bustrophedon" geschrieben haben - "wie der Ochse pflügt". Sie schrieben also abwechselnd eine Zeile von links nach rechts und die nächste mit gespiegelten Buchstaben von rechts nach links. Dünßers Beobachtungen passen dazu: Auf ihr Training mit Spiegelschrift sprechen nach ihrer Aussage Rechts- wie Linkshänder mit LRS gleichermaßen an. Sie findet, es sei ein Gebot der Inklusion, allen betroffenen Kindern dieses Angebot zu machen. Nicht als kommerzielle Ergänzung zur Schule, sondern als Teil des Lehrplans.

Von einer solchen Hilfestellung im Unterricht wollten die Lehrer von Linda nichts wissen. Auch sie besuchte eine von Dünßers Lerngruppen, auch sie war bei einem Kinder- und Jugendpsychiater gewesen. Der hatte nach aufwendigen Analysen LRS diagnostiziert und Notenschutz empfohlen. Was der damals Neunjährigen aber offensichtlich half, konnte sie in der Schule nicht anwenden: Die Lehrer ignorierten die Bitte, Material gespiegelt bereitzustellen. "Zeitungen werden auch nicht falsch herum gedruckt", hieß es. Daraufhin kopierte die Mutter die Seiten aus Lindas Lehrbüchern spiegelverkehrt und vergrößerte sie, damit sie leichter lesbar wurden.

Nach dieser Intervention konnte Linda allmählich auch konventionell gesetzte Texte lesen und verstehen, statt sich wie früher nach den Anfangsbuchstaben eines Wortes irgendetwas zusammenzureimen. Aus der "Märchenerzählerin", wie ihre Mutter sie in den humorvollen Momenten gerne nannte, wurde eine lese- und schreibkompetente 14-Jährige. Linda besucht den Mittlere-Reife-Zweig einer Mittelschule und hat die achte Klasse mit einer Zwei in Deutsch abgeschlossen, ohne Notenschutz und als Klassenbeste. Sie weiß noch ziemlich gut, wie es war, als Frau Dünßer ihr zum ersten Mal gespiegelte Wörter vorführte. Plötzlich begriff sie, wie Buchstaben, Silben und Wörter zusammengehören. "Es war", sagt sie, "als wäre ich in einem dunklen Wald herumgeirrt, und auf einmal kommt die Sonne durch."

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SZ vom 15.10.2018/mkoh
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