Jugendmedizin:Die Schule macht die Schüler krank

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Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Depressionen. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Achtjähriges Gymnasium, erhöhter Leistungsdruck und Lehrermangel: Schule macht Schüler oft krank, warnt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Was tun?

Von Ines Alwardt

Wäre da nicht immer wieder dieses Gefühl in ihr hochgekrochen, das sich erst langsam ihre Gedanken und dann ihr ganzes Leben einverleibte, wahrscheinlich hätte Melanie Heuer sich die letzten zwei Jahre irgendwie durchgequält. Aber das Gefühl, das auszusprechen sie vermeidet, ging nicht weg. Es kam immer öfter. Und irgendwann ließ die Angst sie nicht mehr los.

Es ist Mittwochabend, kurz nach sieben, als Melanie Heuer Zeit hat für ein Gespräch. Das Cheerleading-Training fällt an diesem Tag aus. Heuer, die eigentlich anders heißt, ist 16 Jahre alt und geht in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Wo, das spielt in dieser Geschichte keine Rolle. Denn solche Geschichten wie die von Melanie Heuer spielen überall.

Deshalb soll sie hier nur ein Beispiel sein. Für das, was die Schule anrichten kann. Dafür, wie sie Kinder und Jugendliche mitunter belastet und krank macht. Denn wer sich durch die vielen Studien und Befragungen der letzten Jahre ackert, erkennt eine gemeinsame Tendenz. Und die macht nur wenig Hoffnung für die Zukunft: "Viele der gesundheitlichen Störungen von Schülern, vor allem solche psychischer oder psychosomatischer Art, hängen eng mit dem System Schule zusammen", sagt der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin.

Das seelische Leid der Schüler nimmt zu

Auch deshalb lädt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) an diesem Wochenende zum 20. Jugendkongress nach Weimar. Man könnte sagen, er trifft sich da zu einer Art Krisensitzung. "Schule macht krank?!?" lautet das Thema - und es kann wohl eher als Antwort denn als Frage verstanden werden.

Die Welle ist längst in die Praxen der Kinderärzte übergeschwappt - und sie betrifft alle Altersstufen. "Unser Problem ist die zunehmende Zahl der sogenannten neuen Kinderkrankheiten", klagt Uwe Büsching, Kinderarzt in Bielefeld und Vorstand im BVKJ. Nicht mehr akute Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln und Mumps seien heute das Problem, sondern die steigende Zahl an Depressionen, Angst- und Schlafstörungen sowie psychosomatischen Störungen. Das achtjährige Gymnasium G8, Inklusion, Lehrermangel - all das ist in den Augen der Ärzte ein Grund dafür, dass das seelische Leid der Schüler zunimmt.

Melanie Heuer ist eine gute Schülerin. Sie sagt sich das in letzter Zeit wieder öfter. Doch immer noch leidet sie unter der Vorstellung, nicht gut genug zu sein. In zwei Jahren wird sie im G8 Abitur machen. Vor ein paar Monaten noch war ihr allein der Gedanke daran zu viel. Alles war zu viel. Das Cheerleading. Die Klausuren. Die Schule. "Ich dachte einfach nur: Ich kann nicht mehr!", erzählt sie. Eigentlich machte ihr niemand Druck, eigentlich war es auch nicht nötig: Dennoch kreisten ihre Gedanken fast zwanghaft um die nächsten Termine, die nächsten Klausuren, die nächsten Noten. Bis es nicht mehr ging, sie sich nur noch selbst runtermachte - für alles, was sie nicht geschafft hatte. Oder, noch schlimmer: für das, was sie hätte besser machen können.

Fast jeder dritte Schüler klagt laut einer Umfrage der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2013 über Kopfschmerzen, Schlafprobleme, Gereiztheit oder Niedergeschlagenheit. Vor allem Mädchen sind betroffen, 40 Prozent der Schülerinnen geben sogar an, mehrmals in der Woche unter psychosomatischen Beschwerden zu leiden. Eine Studie des Landesamts für Statistik in Thüringen kommt zu dem Schluss, dass sich die Fälle von Asthma bei Achtklässlern in den letzten sechs Jahren mehr als verdoppelt haben. Auch die Anzahl der Verhaltensauffälligkeiten ist rapide angestiegen.

Für die Kinder- und Jugendärzte sind das alarmierende Zeichen. Seit Jahren kämpfen deutschlandweit Elternverbände für die Abschaffung des G8, kritisieren Experten, dass Schüler zu wenig Freizeit haben, um sich zu entspannen und ihre Persönlichkeit auszubilden. Das sieht auch Rainer Schmidt so, der Geschäftsführer eines Lernförderzentrums in Gelsenkirchen namens "eLZet!". Er sagt: "Kinder, die früher toleriert wurden, werden heute mit Medikamenten ruhig gestellt." Vielfach kuriere man an Symptomen herum; was dahinterstecke, werde viel zu wenig hinterfragt.

Verantwortlich sind auch die Eltern

Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der kurzen Gymnasialzeit, dem steigenden Leistungsdruck und den Erkrankungen, liegt für Bildungswissenschaftler Hurrelmann auf der Hand. Eine wichtige Rolle spiele auch ein Punkt, den vor allem Eltern nicht gerne hören: "Besonders belastend ist für Kinder das schwelende Gefühl, es könnte etwas schiefgehen", sagt Hurrelmann. Dass sie sitzen bleiben oder den Abschluss nicht schaffen. Verantwortlich dafür seien auch die Eltern: "70 Prozent von ihnen erwarten, dass das Kind das Abitur macht", sagt er. Diese Erwartungen machten die Kinder sich zu eigen. "Und wer sie nicht erfüllt, fühlt sich als Versager."

Bei Melanie Heuer hat die Mutter eingegriffen und für ihre Tochter einen Termin beim Therapeuten gemacht. Trotzdem ist die Schule für Heuer bis heute oft ein Kampf. Ob ihre Eltern ihr Druck machen wegen schlechter Noten? Nein. Es sei es andersrum: "Ich setze mich unter Druck, weil ich Angst habe, dass ich keine Eins kriege", sagt sie. Dann macht sie eine Pause, bevor sie sagt: "Und davor, dass alle von mir enttäuscht sind."

© SZ vom 08.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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