Der Mann, der Freddys Vater sein könnte, mustert sie über den Tisch hinweg. "Ohne Löcher wäre die Hose bestimmt billiger gewesen oder?", fragt er, mehr neugierig als missbilligend. Wäre der Mann tatsächlich Freddys Vater und stünde der Tisch mit den abgegessenen Tellern im Esszimmer der Familie, würde die 17-Jährige jetzt vermutlich die Augen verdrehen, begleitet von einem genervten "Oooh, Papa!" Stattdessen streicht das Mädchen mit den langen dunkelblonden Haaren und strassverzierten Fingernägel über ihre schwarze Röhrenjeans und sagt mit einem Lächeln: "Wahrscheinlich." Und: "Wir drehen dann mal die Runde, bis später."
Jürgen Oelschläger, der Mann mit dem mangelnden oder antiquierten Modesinn, nickt freundlich zurück, obwohl er weiß, dass "die Runde drehen" bedeutet: Zigarettenpause. Oelschläger, ergrauter Fünf-Tage-Bart, randlose Brille, ist Schulleiter des Evangelischen Schulzentrums in Michelbach an der Bilz, einem 3300-Seelen-Dorf in Baden-Württemberg. Der weiße, lange Kunststofftisch, an dem er sitzt, steht in der Schulmensa.
Dass Oelschläger Freddy ohne elterliche Zurechtweisung zum Rauchen in den Regen entlässt, liegt nicht an fehlender pädagogischer Verantwortlichkeit, im Gegenteil. Denn Michelbach ist nicht nur Schulzentrum, sondern auch Internat. Viele Jugendliche kommen hierher, weil es zu Hause nicht mehr funktioniert hat, weil Eltern und Kinder sich aneinander aufgerieben haben.
Trennung auf Zeit, um wieder zueinanderzufinden
99 Schülerinnen und Schüler des Aufbau-Gymnasiums werden in diesem Schuljahr in Michelbach nicht nur lernen, sondern auch leben. Michelbach, das bedeutet für die betroffenen Eltern und ihre Kinder: Eine Trennung auf Zeit, um wieder zueinander zu finden. Für Michelbach und Jürgen Oelschläger bedeutet es: Sie sollen die Erziehung übernehmen, nicht jedoch die Erziehungsfehler. Aber kann das funktionieren - das Internat als die bessere Familie?
In jüngerer Vergangenheit machten Internate vor allem mit pädagogischem Komplettversagen Schlagzeilen. In verschiedenen Einrichtungen haben Lehrer und Betreuer über Jahre Schutzbefohlene systematisch missbraucht, ohne dass jemand einschritt. Synonym steht dafür wohl die Odenwaldschule. Auch am wohl bekanntesten deutschen Internat, Schloss Salem, soll es zu Übergriffen gekommen sein. Die Schule am Bodensee ist berühmt als Kaderschmiede für die Macht- und Geldelite - und berüchtigt für ihre strengen Drogenkontrollen.
So hält sich das Klischee von Internaten als Erziehungsanstalten hartnäckig, in die allzu aufmüpfige Kinder "geschickt" werden, auf dass sie als wohlerzogene, junge Erwachsene ins Elternhaus zurückgesandt werden. Auch Michelbach fing einst so an.
Nachdem das Schloss jahrhundertelang leer stand, richtete der deutsche Reformpädagoge Ludwig Wunder dort 1926 ein "Landerziehungsheim" ein. Der Name war Programm: Kinder und Jugendliche sollten auf dem Land, abseits des als schädlich betrachteten Einflusses der Großstadt aufwachsen und erzogen werden. Auf den Tisch kam nur vegetarische Kost - wenn es denn überhaupt etwas gab. Alteingesessene Michelbacher berichten, Wunder habe die Kinder auch mal hungern lassen, wenn sie nicht ordentlich arbeiteten. Später näherte der Pädagoge sein Erziehungskonzept der Nazi-Ideologie an. Er verbannte jüdische Schüler und schaffte die Koedukation ab.
Heute ist Michelbach einzig die Bezeichnung "Heim" aus dieser Zeit geblieben, in Reliefschrift steht am Eingang zum Internat: "Evangelisch-kirchliches Aufbau-Gymnasium mit Heim". Wenn sie könnte, würde Hanna Mühleisen auch diese letzte Erinnerung an die pädagogische Vergangenheit verschwinden lassen. Doch gegen in Stein gemeißelte Geschichte kommt auch die Sozialpädagogin nicht an. "Heim - das ist so ein furchtbarer Begriff! Da hat man sofort das Bild von schwer erziehbaren Kindern im Kopf. Das ist auch für unsere Internatler schlimm, die sich weder als schwer erziehbar sehen, noch als reiche, verzogene Gören."
Outsourcing von Erziehung kostet
Wobei letzteres auch in Michelbach nicht nur Klischee ist. Wenn Mühleisen betont, in Michelbach seien sowohl Schüler aus gut situiertem Elternhaus als auch Kinder, "deren Eltern von Hartz IV" leben, mag das zwar stimmen. Tatsächlich gibt es für Eltern mit geringem Einkommen bzw. kinderreiche Familien die Möglichkeit, über das Schülerbafög die monatlichen Beiträge für Schule und Unterbringung im Internat zu reduzieren. Doch bei einem regulären Satz von 1364 Euro pro Monat liegt der finanzielle Hintergrund der meisten Schlössler wohl eher über Hartz-IV-Niveau.
Outsourcing von Erziehung muss man sich leisten können. Für die Privatschulbetreiber ist es bei allem pädagogischen Idealismus natürlich auch ein Geschäft.
"Schlössler" nennen die Michelbacher die Internatsbewohner, weil das Internat zum Großteil in einer Schlossanlage aus dem 17. Jahrhundert untergebracht ist. Im "kleinen Schloss", einem U-förmigen Fachwerkbau wohnen die Mädchen von der achten bis zur elften Klasse. Gegenüber im "großen Schloss", einem mehrstöckigen Gebäude mit Turm und Zinnen an den Giebelseiten, die gleichaltrigen Jungen. Die Schüler der Kursstufen zwölf und 13 sind ebenfalls nach Geschlechtern getrennt in zwei Nebengebäuden untergebracht.
Viel Geld wurde in Michelbach zuletzt in eine äußere Sanierung der 300 Jahre alten Schlossanlage gesteckt. Der frische, sandgelbe Anstrich wirkt schon optisch dem düstern Internatsstereotyp entgegen, in den Fenstern hängen Blumenkästen. Im Schlosshof wurden in perfekter Symmetrie zwölf Bäume angepflanzt, zwei der jungen Gewächse sind mit Spanngurten festgezurrt.
Das könnte durchaus symbolträchtig sein, wäre da nicht das Zimmer von Tom, 16, und Hosea, 15. Statt gezwungener Ordnung herrscht hier: Chaos.
Die beiden Jungen haben das große Eckzimmer, das im Gegensatz zur herrschaftlich Fassade eher Jugendherbergs-Charme hat, zum Schuljahresbeginn frisch bezogen. Auf dem Boden stehen noch Umzugskartons, der Inhalt ist teilweise auf dem Boden verstreut. Turnschuhe und T-Shirts sind im Raum wahllos-dekorativ verteilt. Eine Ecke von Toms Matratze hängt über dem Bettpfosten. "Jetzt haben sie mir endlich ein großes Bett besorgt - aber die Matratze ist immer noch zu klein!", schimpft der 16-Jährige.
Tom ist groß und bullig. Er hat ein verschmitztes Lächeln, spielt gerne mal den Clown. Der blitzt auch durch, wenn er sich darüber empört, dass die Benutzung der Gemeinschaftswaschmaschine 70 Cent koste, die Maschine aber nur 50-Cent-Stücke nehme. "Jedes Mal, wenn ich wasche, verdient das Internat an mir 30 Cent!"
Und Tom muss oft selbst waschen. Er ist einer von etwa 30 Internatlern, die überwiegend auch am Wochenende im Schloss leben. "Am meisten vermisse ich meine kleine Schwester", erzählt er. Der 16-Jährige ist seit anderthalb Jahren in Michelbach, "weil meine Noten nicht so gut waren und ich nicht so gut mit meiner Mutter klar kam." In Düsseldorf wohnt er mittlerweile bei der Oma. Am Anfang wollte er nicht nicht in die schwäbische Provinz, weg von seinen Freunden in der Großstadt. "Aber man lernt sich hier schnell kennen, findet schnell Anschluss. Nach einer Zeit geht es und man fühlt sich ziemlich wohl."
Montags ist medienfreier Tag
Das ist wohl mehr Teenager-Understatement als mangelnde Begeisterung. Tom ist, so macht es zumindest den Eindruck, glücklich in Michelbach. Stolz präsentiert er das spartanische Zimmer mit dem großen Fernseher. Pro Stockwerk gibt es nur in einem Raum ein TV-Gerät, das Internat will den Medienkonsum der Jugendlichen begrenzen. Immer montags ist "medienfreier Tag".
Denn auch wenn es im Schloss keine Stubenkontrollen wie beim Militär gibt, Laissez-faire ist nicht das pädagogische Konzept in Michelbach. Die Jugendlichen müssen sich an Regeln halten, haben festgelegte Verantwortlichkeiten. Die fangen beim Schulischen an. Jeden Tag ist eine Stunde "Studienzeit". Dabei sollen die Internatler in den Zimmer vor allem für die Fächer lernen, in denen sie Defizite haben. Anwesende Betreuungslehrer geben bei Bedarf Hilfestellung. Wer die Studienzeit wiederholt schwänzt, muss sie im Klassenzimmer ableisten.
Daneben haben die Jugendlichen häusliche Pflichten, müssen Tischdienst in der Mensa machen und die Gemeinschaftsbäder putzen. Außerdem sind sie angehalten, sich für Zusatzdienste zu melden, "durch die sie das Internatsleben bereichern", wie es in der Internatsordnung heißt. So werden beispielsweise der PC- und Fitnessraum von den Jugendlichen selbst verwaltet. Auch bei den zahlreichen Freizeitangebote sind sie eingebunden.
Tom hofft, dass er in diesem Jahr in die Barmannschaft kommt. Der "Barabend" ist ein wöchentliches Event im Internat. Es wird Musik gespielt und auch Alkohol ausgeschenkt. Allerdings nur dem Jugendschutz entsprechend an über 16-Jährige. Und für die gibt es ein klares Limit: 0,5 Promille. Nach dem Stichprobenverfahren werden die Jugendlichen zum Alkoholtest gebeten. "Manchmal gibt es eine richtige Schlange vor dem Betreuerbüro", erzählt Tom spöttisch. Er musste noch nie blasen und ein bisschen macht es den Eindruck, als sei der 16-Jährige darüber enttäuscht.
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In Michelbach gibt es ein gestaffeltes Strafsystem. Bei kleineren Fehlverhalten wird verwarnt, bei groben Regelverletzungen wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch ein Verweis ausgesprochen. Die dritte Verwarnung geht mit einem Verweis einher, beim fünften Verweis muss der Jugendliche damit rechnen, von der Schule bzw. dem Internat zu fliegen. Der gravierendste Verstoß laut Internatsordnung hat allerdings weniger pädagogische als vielmehr praktische Hintergründe: Wer im Schloss raucht, riskiert sofort einen Verweis. Die historischen Gebäude gehören laut offiziellen Angaben zu den brandgefährdetsten in ganz Baden-Württemberg.
Trotz aller Vorschriften leben Freddy, Tom und Lara gerne im Schloss. Michelbach ist für sie ein zweites Zuhause und, ja, auch Familie. Lara, 18, klein, zierlich, brünett, kam vor knapp drei Jahren ins Internat. Wie viele andere Schlössler steckte sie damals in einer schulischen Sackgasse. "Ich kam an der Waldorfschule nicht aus der Schublade 'schlechte Schülerin' raus." Die Entscheidung für Michelbach fiel wegen der Möglichkeit, hier über das Aufbau-Gymnasium doch noch ihr Abitur zu machen. Und sie fiel besonders leicht, weil ihr großer Bruder bereits im Internat war. Der ist mittlerweile weg, doch Lara hat gleich am ersten Schultag Ersatz gefunden: Freddy ist heute ihre beste Freundin.
"Ich habe am Internat die tollsten Menschen getroffen", erzählt auch Freddy, "wahre Freunde." An ihrer alten Schule habe es Cliquen und Grüppchen gegeben, das sei in Michelbach ganz anders. "Hier mag eigentlich jeder jeden, wir sind wie eine Familie." Ist Mobbing tatsächlich kein Thema? Einhelliges Kopfschütteln bei den vier Freunden. "Klar streitet man sich mal, aber das klärt man dann schnell untereinander", so Freddy, "und im Notfall geht man sich eben eine Zeitlang aus dem Weg, hier ist ja genug Platz."
Erziehung durch die Gruppe
Wenn sich ein Konflikt mal nicht so einfach lösen lässt, sind Hanna Mühleisen und ihre drei Kollegen - ein weiterer Sozialpädagoge sowie zwei Erzieher - oder einer der Betreuungslehrer da. Bis es soweit sei, müsse eine Auseinandersetzung aber schon weit eskaliert sein. "Die Schlössler machen viel unter sich aus. Die Erziehung durch die Gruppe funktioniert hier sehr gut." Mühleisen und ihre Kollegen schlichten aber nicht nur Streits und strukturieren die Freizeit der Jugendlichen. Sie beraten auch Eltern, wenn die Kinder übers Wochenende nach Hause kommen. Und sie haben umgekehrt ein offenes Ohr für die Jugendlichen, wenn es zu Hause doch wieder Ärger gab.
Hanna Mühleisen ist klein und zierlich, trägt Jeans, T-Shirt und Trainingsjacke. Wenn sie gegen den Regen ihre giftgrüne Wollmütze übezieht, könnte man sie selbst für eine der älteren Schülerinnen halten. Die 31-Jährige hört den Schlösslern zu, nimmt sie ernst, gibt Ratschläge. "Ich bin für die Jugendlichen eine Art große Schwester." Allerdings: Eine große Schwester von Berufs wegen - das macht es bisweilen beiden Seiten schwer. "Manchmal wird es zu nah", bekennt die Sozialpädagogin, "es gibt Jugendliche, die nicht verstehen, dass sie mich nicht so einfach duzen können. Dann erkläre ich ihnen: Hier im Job bin ich Frau Mühleisen. Zu Hause, im Privaten, bin ich Hanna."
Auch Corinna Mix kennt die Gefahr, dass man Michelbach mit nach Hause nimmt. Die 41-jährige Gymnasiallehrerin leitet das Internat seit fünf Jahren. Außer ihrem zackigen Ton, mit dem sie Schülern und Kollegen gleichermaßen begegnet, hat sie nichts mit dem Klischee einer gestrengen Internatsleiterin gemein. Stattdessen: Kurzhaarfrisur, schwarze Brille, Jeans und Bluse.
"Haben wir genug getan?"
Michelbach nimmt zwar keine Schüler gegen ihren ausdrücklichen Willen, allein auf Wunsch der Eltern auf. "Die Jugendlichen müssen zumindest signalisieren, dass sie bereit sind, sich probeweise auf das Internatsleben einzulassen", so Mix. Aber Michelbach gibt vielen Schülern eine Chance, die anderswo gescheitert sind. Das sind neben Jugendlichen mit Brüchen in der Bildungsbiografie auch Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. "Manchmal müssen wir erkennen, dass wir einem Jugendlichen nicht helfen können", antworte sie auf die Frage, ob es auch vorkommt, dass das Projekt Internat scheitert. "Dann fragt man sich: Haben wir genug getan?"
Aber, so betont Mix, die allermeisten Schüler verließen Michelbach erfolgreich mit dem Abitur in der Tasche. Wenn sich die Jugendlichen erst mal im Internat eingelebt hätten, verbessere sich in der Regel auch schnell das Verhältnis zu Mutter und Vater. "Im Alltag sind wir die Bösen, die Regeln setzen und Sanktionen verhängen. Und zu Hause können sich Eltern und Kinder gegen uns solidarisieren - das entspannt das Konfliktverhältnis." Eine Erwartung muss die Internatsleiterin allerdings enttäuschen: "Wenn beruflich sehr eingespannte Eltern denken, wir könnten die Erziehung bieten, die man sich in einer perfekten Familie vorstellt, muss ich sie enttäuschen. Eine Betreuerin, ein Betreuerin ist keine Vollzeitmutter, kein Vollzeitvater."
In Michelbach braucht es die manchmal aber auch gar nicht. Es ist Abend geworden über dem Schloss, der Regen hat aufgehört. In der Schulmensa geht das Abendessen zu Ende, die für den Küchendienst eingeteilten Jugendlichen putzen bereits die Tische, stellen die Stühle hoch. Ein neuer Schüler umkreist mit einem zusammengeklappten Brot in der Hand den Tisch, an dem die Betreuer sitzen. "Hast du zu Hause immer im Stehen gegessen?", fragt ihn eine Betreuerin. Der Junge bejaht. "Das geht hier nicht, hier bist du Vorbild", erklärt die Betreuerin.