Zwei Weisheiten vom Stammtisch: Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei; Lehrer haben 15 Wochen pro Jahr bezahlte Ferien. Kurzum sind Lehrkräfte allesamt faules Pack, dass sich dank zumeist Lebenzeitverbeamtung auf Kosten der Steuerzahler entspannt zurücklehnt - und auf die gesicherte Pension freut.
Wenngleich es unter Pädagogen - wie in anderen Berufsgruppen auch - gewiss Faulenzer gibt, ist der erste Absatz dieses Textes weitgehend Unsinn. Die Realität der allermeisten Lehrkräfte sieht anders aus. Ständig kommen zum normalen Unterricht neue Aufgaben von Inklusion bis Digitalisierung dazu, für Eltern und Schüler sollen sie möglichst jederzeit erreichbar sein, Korrekturarbeit und Stundenvorbereitung findet spätabends und am Wochenende statt. Und die Ferien mögen unterrichtsfreie Zeit sein, dienstfreie Zeit sind sie nicht.
All das kennt Ulrike Nötel-Duwe aus langjähriger Erfahrung. Seit mehr als 20 Jahren leitet sie die Henning-von-Tresckow-Grundschule in Hannover. Weil sie ihren Job liebt und es den Schulkindern möglichst an nichts mangeln soll, nimmt sie dafür regelmäßig Arbeitswochen von 55 und mehr Stunden in Kauf. Bisher, denn nun reicht es der Schulleiterin. Unterstützt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verklagt sie wie auch neun weitere Lehrkräfte ihren Dienstherrn, das Land Niedersachsen.
Der Vorwurf: Da das Land seit Jahren nichts gegen die immense Arbeitsbelastung vieler Lehrkräfte und inbesondere Schulleiter unternimmt, verletzt es seine Fürsorgepflicht. Für Beamte gilt eigentlich eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Dass diese von Lehrern deutlich überschritten wird, hatte die GEW schon in den Jahren 2015/16 in einer Studie mit knapp 2900 Lehrkräften nachgewiesen. Mit den ermittelten Zahlen sei man dann auf den Dienstherrn zugegangen, erzählt Christian Hoffmann, Sprecher der GEW Niedersachsen: "Der aber hat gesagt: 'Tut uns leid, ist aber halt so.'" Deshalb ziehen nun mehrere Lehrkräfte vor das Verwaltungsgericht Hannover.
Dass ihre Arbeitszeit tatsächlich weit über dem geforderten Maß liegt, hat eine aktuelle Erhebung erneut bewiesen. Dafür haben Forscher der Uni Göttingen um die Sozialwissenschaftler Frank Mußmann und Thomas Hardwig im Auftrag der GEW 20 Studien aus sechs Jahrzehnten zur Lehrkräftearbeitszeit verglichen und neu ausgewertet. Ihr Ergebnis: Lehrkräfte an Grundschulen, Gesamtschulen und Gymnasien arbeiten im Durchschnitt 48 Stunden und 18 Minuten pro Woche.
Entgrenzte Arbeitszeit
Nun lässt sich einwenden: Na gut, dafür haben die Betroffenen ja auch 15 Wochen pro Jahr Ferien. Aber selbst wenn man die 40-Stunden-Woche der Verwaltungsbeamten auf die tatsächlichen Schulwochen umrechnet, müssten Lehrkräfte immer noch nur 46 Stunden und 38 Minuten arbeiten, um ihr Soll zu erfüllen. Und auch das gilt nur unter der Annahme, dass Lehrer während der Ferien keine Minute am Schreibtisch verbringen. Die jedoch widerlegen Studien, wonach befragte Lehrkräfte während der Ferien - mit Ausnahme der Sommerferien - fast täglich arbeiten müssen. (Wie der Arbeitsaufwand eines Lehrers in den Ferien exemplarisch aussieht, lesen Sie in dieser Folge unserer Schulkolumne "Klassenkampf".)
Forscher Frank Mußmann konstatiert: "Es fehlen Erholungsmöglichkeiten in den Schulpausen, die Sieben-Tage-Woche ist in der Schulzeit quasi obligatorisch und die Entgrenzung der Arbeitszeit ist fast die Regel." Entgrenzung beschreibt hier einen Zustand, in dem es quasi keine Trennung mehr gibt zwischen Arbeits- und Privatzeit.
So wie bei der nun klagenden Grundschulleiterin Ulrike Nötel-Duwe. "Administrative Aufgaben erledige ich meist an den Abenden oder am Wochenende, es geht einfach nicht anders", sagt sie. Fördergutachten muss sie verfassen, sich um die Verträge pädagogischer Mitarbeiter der Schule kümmern, das Schulbudget verwalten, die Spachförderung von Flüchtlingskindern organisieren und dafür sorgen, dass in der Cafeteria die Hygienevorschriften eingehalten werden. Dazu kommt, dass Grundschulleiter mit zwölf Schulstunden pro Woche im Vergleich zu ihren Kollegen an weiterführenden Schulen selbst eine sehr hohe Unterrichtsverpflichtung haben.
Kein Wunder, dass es nicht nur in Niedersachsen gerade an den Grundschulen kaum Lehrkräfte gibt, die eine Schulleitung übernehmen wollen. Bundesweit fehlen etwa 1000 Bewerber für die Leitungspositionen. Dass sich niemand dafür findet, dürfte neben dem Arbeitsaufwand auch an der Bezahlung liegen: Ein Grundschulleiter verdient nur wenige Hundert Euro monatlich mehr als eine normale Lehrkraft. Rektoren zum Beispiel an Gymnasien wiederum bekommen je nach Dienstzeit bis zu 3000 Euro pro Monat mehr als ihre Grundschulkollegen. Längst laufen diverse Initiativen bundesweit, um den Beruf des Grundschullehrers und insbesondere -leiters (finanziell) attraktiver zu machen.
Und die Politik? Sitzt das Problem mit der ausufernden Arbeitszeit von Lehrkräften seit Jahren aus. Die Kultusminsterkonferenz hat nicht nur bestehende Erhebungen weitgehend ignoriert. Sie hat kaum Anstalten unternommen, selbst eine repräsentative Studie durchzuführen, um nachzuweisen, wie viel die Lehrkräfte denn nun tatsächlich arbeiten. Nun hat der Deutsche Philologenverband das Institut für Präventivmedizin der Universität Rostock mit einer neuen bundesweiten Untersuchung beauftragt. Man erhofft sich dadurch eine "ehrliche, wissenschaftlich fundiert Diskussion über die quantitative und qualitative Belastung in unserem Berufsstand", heißt es in der vom Bayerischen Philologenverband herausgegebenen Monatszeitschrift. Leider werden an der Studie nur Gymnasiallehrkräfte teilnehmen.
Auf die aktuelle Klage in Niedersachsen hat die Politik derweil zurückhaltend reagiert. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) sagte dem NDR, er wolle mit den Lehrerverbänden über das Thema Arbeitszeit sprechen. Eventuell könne man das Personal an den Schulen entlasten. Aber, schränkte der Minister mit Blick auf den Lehrermangel ein: Wenn Lehrer weniger unterrichten dürften, würde das zu neuen Löchern in den Stundenplänen führen. Für die Lehrkräfte klingt das nicht nach baldiger Besserung der Situation.
Auch nicht für Ulrike Nötel-Duwe. Wobei es ihr bei der Klage gar nicht so sehr um ihre eigene Arbeitszeit geht. "Ich tue das nicht meinetwegen, ich gehe im Sommer ohnehin in Pension", sagt sie. "Aber meine Kolleginnen und Kollegen sollen ihren Job endlich in einer vernünftigen Zeit erledigen können, auch im Sinne der Kinder." Wenn die Schulferien ein wenig Zeit zur Erholung böten, wäre das ja schon mal ein Anfang.