Frankreich:Kulturkampf der Neinsager

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Frankreichs Regierung will den Schulunterricht verbessern - und von allen Seiten hagelt es Kritik. Die Konservativen bangen um Latein und Griechisch, die Linken um die Gleichheit. Nun wird gestreikt.

Von Christian Wernicke, Paris

Drei Millionen französische Schüler haben am Dienstag einen landesweiten Streik hinnehmen müssen. Sieben rechte wie linke Gewerkschaften hatten die Lehrer an Frankreichs Mittelschulen, den "Collèges", zu Protesten gegen eine Reform aufgerufen, mit der die sozialistische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem Schwächen des nationalen Bildungssystems kurieren will. Die Beteiligung lag am Dienstag bei 30 bis 50 Prozent.

In den vergangenen Tagen hatte der Schulstreit kulturkämpferische Züge angenommen. Konservative Politiker wie Bruno Le Maire warnten, die Linke wolle das Bildungsniveau senken und riskiere "den Untergang der Nation". Premier Manuel Valls konterte, die Opposition propagiere ein elitäres Konzept, dass Hunderttausende junge Franzosen "zum Scheitern verurteilt". In Berlin befürchtet die Bundesregierung einen massiven Rückgang des Deutschunterrichts im Partnerland.

Die zum Teil widersprüchliche Kritik zeigt Wirkung: Drei Fünftel aller Franzosen bekunden in Umfragen, sie unterstützten den Lehrerstreik. Unstrittig ist, dass Frankreichs Schulen in einer Krise stecken. Tests wie die Pisa-Studien zeigen, dass die Collèges mittelmäßige Ergebnisse produzieren - und zugleich die sozialen Unterscheide zwischen jungen Franzosen aus privilegierten Schichten und aus den Elendsquartieren stetig verschärfen.

Jährlich verlassen ungefähr 150 000 Jugendliche das Schulsystem ohne Abschluss. Voriges Wochenende wurde eine Studie des Erziehungsministeriums bekannt, wonach jeder fünfte Absolvent eines Collèges nach der neunten Klasse nicht in der Lage war, Mathematikaufgaben zu lösen, die für die fünfte Klasse Grundschule konzipiert waren. Die Regierung verspricht, ihre Reform werde im September 2016 in Kraft treten - und Lernerfolge verbessern sowie mehr Chancengleichheit schaffen. Ein Schritt dazu ist, dem traditionell hierarchischen und strikten französischen Schulsystem mehr Gruppenarbeit und mehr interdisziplinären Unterricht zu verordnen. Auch sollen die Collèges Freiheit bei der Gestaltung von 20 Prozent ihres Programms erhalten. Genau dies ruft linke wie rechte Kritiker auf den Plan.

Konservative fürchten eine Schwächung klassischer Kernfächer wie Französisch oder Mathematik. Derweil argwöhnen linke Gegner, die Reform schaffe "Schulen à la carte", die vor allem in sozialen Brennpunkten die Ansprüche senkten und so das republikanische Versprechen der Gleichheit verrieten. Auch bemängeln Gewerkschafter, die Flexibilität werde den Schuldirektoren zu viel Macht gegenüber Lehrern einräumen. Auf massive Kritik Konservativer stößt etwa der Abbau von Griechisch und Latein. Hier gab die Bildungsministerin inzwischen nach.

Gleichwohl eskalierte der Schulkampf, als Entwürfe für eine Überarbeitung der Lehrpläne für die Mittelstufe bekannt wurden. Prompt wurde Ministerin Vallaud-Belkacem, Tochter marokkanischer Einwanderer, in Polemiken unterstellt, sie wolle die Vermittlung von Grundkenntnissen des Islam obligatorisch machen - und gleichzeitig den Unterricht über Aufklärung und Christentum zum Wahlfach abwerten. "Die christliche Zivilisation wird durch einen Pflichtkurs über den Islam ersetzt", wetterte Oppositionsführer Nicolas Sarkozy. Eine präzise Lektüre der Lehrpläne gab ein solches Urteil zwar nicht her. Aber das hinderte den Ex-Präsidenten nicht, die Ministerin persönlich zu attackieren - was wiederum die Linke zum kollektiven Schulterschluss zwang.

So verhärten sich die Fronten. Sogar der Präsident meldete sich im Kulturkampf zu Wort, um seiner Ministerin den Rücken zu stärken - und um die vielfältigen Proteste linker wie rechter Nein-Sager als "Konzert der Unbeweglichen" zu geißeln. Das klang wie "keine Kompromisse". Von diesem Lagerdenken überrollt werden auch Bedenkenträger aus den eigenen Reihen. Nicht nur 250 rechte Abgeordnete, auch etliche sozialistische Parlamentarier hatten dagegen protestiert, wie die Reform den Deutschunterricht in Frankreich bedrohe. 15 Prozent von Frankreichs Mittelschülern lernen die Sprache des Nachbarn, die meisten von ihnen in besonderen "Europasektionen" und "bilingualen Klassen", in denen neben Englisch auch Deutsch auf dem Lehrplan steht. Ohne diese Formate, so warnen französische Experten und deutsche Diplomaten, werde die Zahl der Deutschschüler dramatisch sinken.

Der Sprache Goethes haftet das Image an, besonders schwer und deshalb elitär zu sein

Doch Ministerin Vallaud-Belkacem will die bilingualen Klassen abschaffen - im Namen der "Égalité": Der Sprache Goethes haftet das Image an, schwer und deshalb elitär zu sein. Tatsächlich betrachten gebildete Familien die bilingualen Klassen als Ausweg, um ihren Kindern auf den einheitlichen Mittelschulen eine besondere Nische zu sichern. Pädagogen berichten jedoch ebenso, dass die Förderung des Deutschunterrichts Schülern aus benachteiligten Milieus hilft, Selbstvertrauen zu entwickeln. Auch Jean-Marc Ayrault, ehemaliger Deutschlehrer und bis vor 14 Monaten sozialistischer Premierminister, hat aufbegehrt gegen diesen Teil der Reform.

Er erinnert daran, was Franzosen und Deutsche einander versprochen haben, etwa 2013, bei der 50-Jahr-Feier des Élysée-Vertrags: "Das Erlernen der Partnersprache", so beschworen damals beide Regierungen, sei "wichtig für ein besseres gegenseitiges Verständnis und eine Annäherung unserer Gesellschaften". Das Kommuniqué findet sich auf der Website der französischen Botschaft am Pariser Platz in Berlin - doch ein technischer Fehler macht ausgerechnet den entscheidenden Paragrafen der französischen Fassung unlesbar. Die version allemande ist vollständig. Nur, die liest niemand in Frankreich.

© SZ vom 20.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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