Herr Steppich, stimmt es, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Schulen ein Entwicklungsland ist?
Absolut. 1999 und 2001 habe ich meine Schüler zum Austausch nach England und in die USA begleitet. Die IT-Situation an den Schulen dort war besser als sie es heute an meiner eigenen Schule ist.
Was hatten die, was Sie nicht haben?
Einen hauptamtlichen Systemadministrator und einen hauptamtlichen Techniker. Die Lehrer mussten das nicht noch nebenher machen. Sie haben mit den digitalen Mitteln ausschließlich pädagogisch gearbeitet.
An Technik mangelt es nicht?
Von der Ausstattung her steht meine Schule ganz gut da. Aber wir brauchen denselben professionellen Support, der auch in Firmen und Behörden Standard ist: Ideal wäre eine Vollzeitkraft auf 100 Geräte.
Und an Ihrer Schule bügelt ein Lehrer die Personallücke aus?
Ja, aber der Kollege, der bei uns die IT für 130 Geräte macht, geht bald in Pension. Ich bin gespannt, wer ihn ablöst.
Sie nicht?
Auf keinen Fall. Lehrer sind Lehrer und keine Techniker. In Ihrer Zeitung macht hoffentlich auch kein Redakteur nebenher den Admin.
Setzen Sie Hoffnung auf den Digitalpakt der Bundesbildungsministerin?
Die fünf Milliarden von Frau Wanka wären eine Chance. Wenn die aber nur in Hardware investiert werden statt in Support, dann haben wir ein Milliardengrab.
Der Bund will in schnelles WLAN und stationäre Hardware investieren. Für mobile Endgeräte, Support und didaktische Konzepte sollen die Schulträger sorgen, also die Städte und Gemeinden.
Und wenn die in Geldnot sind oder sagen, wir haben uns diese IT-Ausstattung nicht ausgesucht, warum sollen wir jetzt teuren Support dafür zahlen, dann wird es schwierig.
Das heißt, die Schere zwischen Reich und Arm könnte bewirken, dass Schüler unterschiedlich gut auf die digitale Welt vorbereitet werden?
Nicht jede Schule hat wie meine dank wohlhabender Eltern einen Förderverein, der aus Spenden 25 000 Euro für Tablets zuschießen kann, die weit weniger wartungsintensiv als Computerräume sind.
Wie viele Tablets gibt es an Ihrer Schule?
Vier Wagen mit jeweils einem Klassensatz. Jede Lehrkraft kann sich einen Wagen holen. Die Tablets müssen nach Benutzung wieder einsortiert und ans Ladegerät des Wagens gehängt werden. Das vergessen Kollegen öfter mal. Dann kommt der nächste und findet leere Tablets vor. Die geplante Stunde kann er dann vergessen.
Was dann?
Plan B, analog. Man muss immer doppelt planen. Auf Dauer geht das nicht. Wir haben auch ohne die Digitalisierung sehr viel Arbeit dazu bekommen in den letzten Jahren, die Kinder werden nicht gerade einfacher, die Eltern auch nicht, da überlegt man genau, wofür man Zeit investiert.
Und was machen Sie, wenn die Tablets geladen sind?
Zum Beispiel lasse ich die Schüler in Englisch Shortstorys schreiben. Die laden sie dann auf die Lernplattform unseres Schulnetzwerks hoch, wo auch die anderen sie lesen und kommentieren können. Aber wir benutzen die Tablets auch für Mathematikprogramme, Biologie-Lehrvideos oder um in Physik Experimente anzuschauen, die mangels Zeit sonst ausfallen müssten.
Nutzen Lehrer die Lernplattform gern?
Von den 110 Lehrern an unserer Schule nutzen sie nur ganze wenige.
Warum denn das?
Weil sie sich da auch wieder einarbeiten müssen und viele das ohne Fortbildung gar nicht schaffen oder nicht willens sind, weil sie ohnehin mehr als ausgelastet sind.
Braucht es mehr Schulungsangebote?
Ja, und zwar spezifisch für jedes Fach. Mit Glück übernehmen das fitte Kollegen. Schulungen von Externen passen oft nicht ausreichend zu unserer Berufswirklichkeit.
Hängt das Interesse am Digitalen vom Alter ab?
Weniger als man denkt. Bei den gut 100 Referendaren, die ich pro Jahr in Medienerziehung ausbilde, können manche gerade mal ihr Smartphone bedienen, ein bisschen Whatsapp und Facebook, das war's.
Referendare sind jung, aber keine Digital Natives?
Die wenigsten. Zum Beispiel kennt sich keiner aus mit der für Schüler wichtigsten App nach Whatsapp und Instagram: mit Snapchat. Lehrer waren schon immer eine unterdurchschnittlich technikaffine Berufsgruppe. Viele haben mit Technik wirklich keinen Vertrag. Wer möchte, dass sie dennoch nutzbringend mit digitalen Mitteln arbeiten, muss sie intensiv schulen.
Snapchat ist ein Messenger für Bilder und Videos, die sich nach zehn Sekunden selbst zerstören. Wieso sollte ein Lehrer das nutzen?
Er muss es nicht für sich nutzen, aber er sollte die Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen einigermaßen kennen. In sozialen Netzwerken passiert vieles, das die Kinder belastet, krasse Bilder und Videos, sexuelle Übergriffe im Chat, Abmahnungen für illegale Downloads. Lehrer sollten wissen, mit welchen Medien Schüler umgehen und ihnen zur Seite stehen. Wenn sie davon keine Ahnung haben, können sie das nicht.
Was müsste sich in der Ausbildung angehender Lehrer ändern?
Im hessischen Schulgesetz steht, dass Medienerziehung ein fächerübergreifendes Thema ist. Dementsprechend müsste das Digitale in jedem Fachbereich an der Uni selbstverständlich enthalten sein - so, dass man als Student nicht daran vorbeikommt. Ich finde, Lehramtsstudenten müssten einen Medienschein erwerben. Aber das scheitert aktuell schon daran, dass an den Unis eine Generation von Professoren überwiegt, die selbst nicht fit in der Mediennutzung sind. Manche lesen sogar ihre Vorlesungen von Power-Point-Folien ab, auf denen 300 Wörter stehen.
Welchen Mehrwert haben digitale Medien überhaupt?
Bei einem zweijährigen, wissenschaftlich begleiteten Tablet-Projekt an vier Wiesbadener Schulen haben die Schüler ganz klar gesagt: Wenn Lehrer sich auskennen, ist es cool, und man lernt was. Vielleicht sogar mehr als auf dem klassischen Weg, weil es so viel Spaß macht. Bei Lehrern, die mit Beamer, Laptop und Whiteboard kämpfen, sei es aber eher Zeitverschwendung, sagen die Schüler.
Geben Sie uns ein Beispiel für "mehr Lernen durch Spaß"?
Ein Video mit der Rede eines US-Präsidenten. Sehen es alle zusammen auf einem Monitor, versteht es der eine besser, der andere schlechter, die Lerneffekte sind unterschiedlich. Kann aber jeder Schüler die Rede in seinem Tempo auf seinem Tablet hören, zurückspulen, nochmal hören, im Internet ein Wort nachschlagen, dann macht das mehr Spaß, und es bleibt mehr hängen. Das Gegenteil von Frontalunterricht. Jeder ist ein anderer Lerntyp.
Aber das Whiteboard ist immer noch eine Tafel für alle, die an der Wand hängt. Frontalunterricht?
Ja, wenn ich mich mit dieser elektronischen Tafel nicht auskenne, da vorn eben nur ein Video zeige oder eine Präsentation, dann ist das weiterhin Frontalunterricht. Speichere ich aber Tafelanschriebe ab, die ich den Schülern zur Weiterarbeit schicke, oder zeige auf dem Whiteboard, was ein Schüler gerade auf seinem Tablet fertiggestellt hat, nutze ich fachspezifische Software, etwa interaktive Geografiespiele oder Quizze, dann wird der Unterricht sehr viel flexibler.
Welche digitalen Mittel kommen für Sie nicht in Frage?
Ich würde in den unteren Klassen nicht mit Smartphones arbeiten, weil sich die Kinder in dem Alter nicht gegen den Spaßfaktor der Geräte wehren können. Später funktioniert das wunderbar, wenn man klare Regeln aufstellt. Meine Achtklässler dürfen ungefragt ihre Handys auf dem Tisch haben, aber nur im Flugmodus. So können wir im Offline-Wörterbuch Vokabeln nachsehen, viel schneller als im Englischbuch. Online ist nur erlaubt, wenn ich es sage. Die Schüler wissen genau, wenn ich mitkriege, dass irgendwer eine Whatsapp-Nachricht auch nur liest, ist das Handy weg. Und dann müssen die Eltern es abholen.
Alle Kinder, die 2018 an die Schulen kommen, sollen zu fachkundigen, kritischen Teilhabern der digitalen Welt werden. Wie realistisch ist das?
Wenn wir in dem Tempo der letzten 20 Jahre weitermachen, wird das schwierig. Und Lehrer wie ich, die sich alles selber draufgeschafft haben - ich bin ja Englisch- und Sportlehrer - werden weiter mit Netzwerken kämpfen. Das digitale Feld ist ja so dynamisch, dass man extrem am Ball bleiben muss. Bis vor zehn Jahren haben wir über Smartphones noch gar nicht geredet.
Was, wenn Frau Wanka die Milliarden für die Digitalisierung gar nicht bekommt, was ja einige befürchten?
Dann treten wir auf der Stelle. Aber für mich ist klar: Die Welt ist digital und sie wird immer digitalisierter. Auf diese Welt müssen wir unsere Kinder optimal vorbereiten.