Nehmen wir an, Sie bearbeiten im Büro ein Sonderprojekt. Das Thema ist spannend, und Ihr Chef bietet an, dass Sie dafür ein paar Stunden pro Woche von Ihren regulären Aufgaben entlastet werden. Am Ende aber brauchen Sie für das Projekt nicht ein paar Stunden pro Woche, sondern anderthalb Tage. Wochenenden und Feierabende gehen regelmäßig dafür drauf. Wie lange würden Sie das mitmachen?
Jens Reider hat es 13 Jahre lang mitgemacht. Reider, der in Wahrheit anders heißt, ist Mathematik- und Physiklehrer an einem bayerischen Gymnasium. Eigentlich. Für seine Kollegen war er über Jahre hinweg vor allem der Ansprechpartner, wenn irgendetwas mit der Technik nicht funktioniert hat: Als Systembetreuer seiner Schule hat sich Reider über drahtloses Internet und Firewalls informiert, sich mit Datenschutz und Hardwareproblemen herumgeplagt. Gelernt hat Reider aus dieser Zeit eines: "Man braucht hier eine Professionalisierung. Für einen Lehrer allein ist das kaum zu schaffen."
Die Digitalisierung ist das Zukunftsprojekt in der Bildung schlechthin. Umso mehr, nachdem Studien gezeigt haben, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich nur mäßig fit am Computer sind. Dass sich das ändert, dafür soll unter anderem der Digitalpakt von Bund und Ländern sorgen. Der Bund wird in den kommenden Jahren fünf Milliarden Euro für die schulische Digitalisierung bereitstellen. Die Länder sollen im Gegenzug Konzepte ausarbeiten, damit die Lehrer dann auch etwas mit all den Tablets oder digitalen Tafeln anfangen können, die mittelfristig zur Verfügung stehen sollen.
Verteilt man die fünf Milliarden Euro auf 40 000 Schulen, die digitalisiert werden sollen, bleiben pro Schule 125 000 Euro. Davon kann man schon ein paar Dutzend hübsche Tablets oder sonstige Hardware kaufen. Das könnte für Schüler wie Lehrer ein Grund zur Freude sein. Aber wer kümmert sich um die Technik? Wer selbst auch nur ein oder zwei solcher Geräte besitzt, der weiß, wie oft sie abstürzen können, keine Verbindung zum Internet herstellen oder auf andere Weise den Dienst versagen.
15 Stunden Mehrarbeit - pro Woche
Und damit zurück zu Jens Reider. Dessen Stelle als Systembetreuer gibt es an zahlreichen - nicht nur bayerischen - Schulen in Deutschland. Als Inhaber so einer Funktionsstelle müssen Lehrer bei voller Bezahlung weniger Unterricht halten, weil sie anderweitig zu tun haben. Ein bayerischer Gymnasiallehrer muss in Vollzeit 23 Wochenstunden unterrichten; dem Systembetreuer Reider wurden zwischen zwei und vier Stunden davon erlassen, damit er sich um Computerräume, Wlan et cetera kümmern konnte.
Gereicht hat diese Zeit hinten und vorne nicht, im Durchschnitt hat sich Reider wöchentlich etwa 15 Stunden mit der Technik beschäftigt. Neben seinem Lehrerjob, wohlgemerkt. "Man macht das mit viel Idealismus, anders geht es gar nicht", sagt Reider über diese Jahre.
Was der Mathelehrer beschreibt, ist nur eine Krux von vielen, wenn es um die Digitalisierung an Schulen geht: Das Projekt bleibt an den Lehrkräften hängen, fünf Milliarden hin oder her. Man kann die Schulen mit noch so vielen Tablets bewerfen - wenn die Lehrer nicht für digitalen Unterricht geschult werden, endet die Schuldigitalisierung in Elektroschrott und Kabelsalat. Schulen brauchen bei der Systembetreuung professionelle Unterstützung.
Franz Vogl kennt das Problem gut. Er leitet das Oskar-Maria-Graf-Gymnasium in Neufahrn, nördlich von München. Dort treibt er die Digitalisierung seit Jahren voran. Das Gymnasium ist eine von 38 Schulen deutschlandweit, die in einem Arbeitskreis die Voraussetzungen für digitale Bildung herausarbeiten. Mit immer mehr Hardware für die Schulen sei es nicht getan, meint Vogl, man müsse die Strukturen insgesamt verändern:
"Ich brauche ein Wlan-Netz, das die zu Recht hohen Anforderungen in Sachen Datenschutz an Schulen erfüllt; ich brauche ein schulinternes Netz für meine Computerräume und Tablets; ich brauche ein Verwaltungsnetz, das physisch vom Rest getrennt sein muss; dazu kommen noch weitere Zugänge von außen, die bereitgestellt und überwacht werden müssen. Jede mittelständische Firma hat für solche Aufgaben eine IT-Abteilung - aber an einem Gymnasium soll das ein Lehrer neben seinem normalen Job leisten? Das ist völlig utopisch", sagt Schulleiter Vogl.
Kurzum: Wer will, dass die Digitalisierung an deutschen Schulen gelingt, darf nicht nur an die zweifellos fehlenden Rechner und Breitbandverbindungen denken, sondern auch an die Lehrer - und sie vor Zusatzaufgaben schützen. Denn dass Leute wie Jens Reider mit Engagement und Herzblut die Systeme an ihren Schulen betreuen, ist nicht nur der immensen Mehrarbeit wegen ein Problem.
In den allermeisten Fällen übernimmt die Funktionsstelle Systembetreuung eine Lehrkraft aus den Bereichen Mathe/Physik/Informatik. Diese Lehrkräfte werden aber dringend im Unterricht gebraucht, weil es zu wenige von ihnen gibt. Im schlechtesten Fall leidet die Unterrichtsqualität darunter, dass digitale Infrastruktur bei der Digitalisierung im Klassenzimmer kaum mitgedacht wird.
Im Strategiepapier "Bildung in einer digitalen Welt" der Kultusministerkonferenz (KMK) werden seitenlang die Kompetenzen aufgezählt, die Lehrer für die Zukunft erwerben müssen. Wie sie dafür entlastet werden, steht dort nicht. "Die Lehrer können nicht nur in ihrer Freizeit darum kämpfen, dass die Digitalisierung im Klassenzimmer ankommt", warnt Schulleiter Vogl.
Dabei gäbe es einen gangbaren Ausweg: Allen Schulen könnten, wie das mancherorts bereits geschieht, finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich professionelle Hilfe einkaufen können, wenn es etwa am hauseigenen Wlan hakt. Zusätzlich könnte der zuständige Landkreis IT-Stellen für Experten etablieren - also nicht für Lehrer, sondern für Informatiker - die mehrere Schulen betreuen und helfen, wenn Not am Rechner ist. Den Systembetreuer aus dem Lehrerkollegium wird es für pädagogische Fragen weiterhin brauchen. Er könnte sich aber wieder auf seinen eigentlichen Job konzentrieren: guten Unterricht für eine digitale Generation von Schülern machen.
Das sieht die KMK auf Nachfrage immerhin ganz ähnlich. Sobald Schulen an Breitbandverbindungen angeschlossen seien, "erweitern sich die Möglichkeiten der Fernwartung und Betreuung von IT-Infrastrukturen z. B. durch kommunale Rechenzentren oder IT-Firmen". Bleibt zu hoffen, dass ein Teil der ominösen fünf Digitalpaktmilliarden dafür investiert wird.