Deutscher Schulpreis:Diese Schule ist um Klassen besser

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An der Elisabeth-Selbert-Schule wird auch Backen gelehrt. (Foto: Theodor Barth/RB Stiftung)
  • Die Elisabeth-Selbert-Schule (ESS) in Hameln ist mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden.
  • Der mit 100 000 Euro dotierte Hauptpreis geht damit zum ersten Mal überhaupt an eine berufsbildende Schule.
  • Fast 2000 Schüler aus 34 Nationen lernen an der Bildungseinrichtung in Niedersachsen.

Von Paul Munzinger, Hameln

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die einen großen Unterschied machen. In der Elisabeth-Selbert-Schule tun das die unscheinbaren Zettelchen, die in jedem Klassenzimmer zum Abreißen an der Wand hängen. "Zuhören, beraten, handeln nötig? Wir sind für dich da!", steht auf den Zetteln, daneben sind sechs Köpfe abgedruckt: zwei Schulpastorinnen, zwei Beratungslehrerinnen, ein Diakon, ein Schulsozialarbeiter, jeweils mit E-Mail-Adresse und Handynummer, jederzeit erreichbar. Sie bilden das Beratungsteam, das Netz, das die Schüler auffangen soll, wenn sie Schwierigkeiten haben, in der Schule oder zu Hause. "Dann redet man über den Fall und dann wird das geklärt", sagt der Schüler Mahsun Aydin. Klingt ganz einfach.

Die Elisabeth-Selbert-Schule (ESS) in Hameln darf sich nun offiziell Deutschlands beste Schule nennen, und das liegt auch an diesen Zettelchen. Am Montag überreichte Bundeskanzlerin Angela Merkel Schulleiterin Gisela Grimme in Berlin den Deutschen Schulpreis, den die Robert-Bosch-Stiftung und die Heidehof-Stiftung seit 2006 alljährlich vergeben. Der mit 100 000 Euro dotierte Hauptpreis geht damit zum ersten Mal überhaupt an eine berufsbildende Schule. "Durch das dichte Geflecht aus passgenauer pädagogischer Förderung und Fürsorge", so begründete die Jury ihre Entscheidung, "erzielen die Schüler hier Erfolge, die an anderen Schulen kaum jemand für möglich hielt."

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Fast 2000 Schüler aus 34 Nationen lernen an der ESS. Unter ihnen sind 124 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr nach Hameln gekommen sind, unter ihnen sind auch etwa 30 Insassen der JA Hameln, der größten Jugendstrafanstalt Deutschlands. "Unsere größte Herausforderung", das hat Gisela Grimme ins aktuelle Jahrbuch der ESS geschrieben, "sind die uns anvertrauten Jugendlichen. So wie sie sind, und nicht so, wie wir sie uns wünschen."

Grimme, 62 Jahre alt, ist seit 21 Jahren Schulleiterin, eine zierliche blonde Frau mit eckiger Brille, die viel lächelt und der jeder Zynismus fern ist. Im niedersächsischen Hameln, das sich stolz "Rattenfängerstadt" nennt, ist die ESS auf drei Standorte verteilt. Grimme hat ihr Büro im ersten Stock des Schulhauses am Langen Wall, am Rand der Altstadt, wo sich ein windschiefes Fachwerkhäuschen an das nächste reiht. Der Blick aus dem Fenster geht hinaus auf die Weser, bis zur Preisverleihung sind es noch gut zwei Wochen.

Gisela Grimme sieht es als Aufgabe ihrer Schule an, jungen Menschen "ins Leben zu helfen". Viele Schüler kämen mit einem "schweren Rucksack" an der ESS an, sagt sie, soll heißen: Sie kommen aus schwierigen Familienverhältnissen, haben soziale Benachteiligung erlebt und Schulkarrieren hinter sich, die bereits am Ende zu sein schienen. Wieso gelingt an der ESS häufig, was andernorts nicht gelingt? Wie werden die schweren Rucksäcke wieder leichter?

"Eine gute Schule", sagt Grimme, besteht aus vielen kleinen Mosaiksteinen." Eine klare Struktur sei wichtig, klare Regeln, und zugleich die Bereitschaft, diese Regeln auch einmal großzügig auszulegen, zugunsten der Schüler. "Leitplanken, aber aus Gummi", sagt Grimme. Zudem dürfen die Schüler die Lehrer schon seit vielen Jahren anonym bewerten, sie fühlten sich so ernst genommen, sagt Grimme.

Das Wichtigste aber sei die Einstellung der Lehrer. Die Devise laute nicht "Ich und meine Klasse", sondern "Wir und unsere Schule". Jeder sei für das Ganze verantwortlich, alle Lehrer teilten ein Menschenbild: "Jeder ist uns wichtig, jeder muss ein Stück weiterkommen. Hier wird keiner plattgemacht, auch wenn er sich einmal daneben benimmt. Jeder hat noch eine Chance verdient." Vielleicht, sagt Grimme, klappe manches an der ESS auch besser, weil die Schulleitung mit ihr an der Spitze aus sieben Frauen besteht. Und weil Lehrerinnen den Erziehungsauftrag, dem sich gerade eine berufsbildende Schule zu stellen habe, womöglich ein wenig ernster nähmen. Interesse an den Schülern zeigen, darum gehe es. Nur das Wort "kümmern", das mag sie nicht.

Mahsun Aydin war so ein scheinbar hoffnungsloser Fall. Aydin, 21 Jahre alt, kurdischer Abstammung, die Kanten des Bartes wie mit dem Lineal gezogen, hatte mit der Schule eigentlich schon abgeschlossen. Er wollte abbrechen und Autos verkaufen. Die Noten waren zu schlecht, auf drei verschiedenen Schulen sei er gescheitert. Die ESS war sein vierter Versuch, und hier war es wirklich anders, sagt er. Hier werde kein Schüler aufgegeben, hier gebe es Lehrer, denen wirklich daran gelegen sei, den Schülern zu helfen. "Hier habe ich gemerkt: Es geht", sagt Aydin. Er besucht das berufliche Gymnasium mit Schwerpunkt Ernährungswissenschaften, bald macht er Abitur. Dann will er Medizin studieren.

Vielfalt ist einer der Schlüsselbegriffe, wenn Grimme von ihrer Schule spricht, und damit meint sie auch die Vielfalt der möglichen Abschlüsse. Tatsächlich gleicht der Überblick über die Bildungswege, die an der Schule möglich sind, einem komplexen Verfassungsschema. Das berufliche Gymnasium ist ein Zweig von vielen, die Schüler können sich unter anderem in Agrarwirtschaft, Altenpflege, Heilpädagogik oder Kosmetik ausbilden lassen. Vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur sind alle Abschlüsse möglich.

Dass die Schulpreisjury in diesem Jahr eine berufsbildende Schule auszeichnet, ist auch als Signal zu verstehen - als bewusste Aufwertung einer Schulform, der in den deutschen Bildungsdebatten viel weniger Aufmerksamkeit zuteil wird als etwa dem Gymnasium. Auch die Kultusministerkonferenz hat das Jahr 2017 zum Jahr der beruflichen Bildung ausgerufen. Sie will darauf hinweisen, dass es in Deutschland zu dem von vielen als Königsweg angesehenen Dreiklang Gymnasium, Abitur, Studium eine Alternative gebe: die berufliche Bildung, einen zweiten Königsweg.

"Wir werden immer ein bisschen belächelt", sagt Gisela Grimme. "Aber wer hat eigentlich definiert, dass es mehr wert ist, das kleine Latinum zu beherrschen, als eine super Torte zu backen?"

© SZ vom 30.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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