Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass momentan das gesamte französische Schulsystem infrage gestellt wird. Die Volksschule sei am Ende, schreiben unumwunden der Historiker François Durpaire und die Soziologin Béatrice Mabilon-Bonfils in ihrem Buch "La fin de l'école": Von den Lernprogrammen und Lehrmethoden bis zur Sitzordnung in den Klassenräumen müsse alles von Grund auf neu überdacht werden. Das Lesen und Schreiben werde von den "Digital Natives" nicht mehr auf der Schulbank gelernt, deren Kultur habe mit hierarchisiertem Wissen nichts zu tun und deren Gemeinschaftssinn entstehe statt über den altväterlichen Generationenvertrag des Weitergebens über die spontanen Emotionsaufwallungen unter Gleichgesinnten und Freunden.
Frech blicken die beiden Autoren auch über den Atlantik aufs dortige Gegenmodell zur Éducation Nationale und zitieren eine Prognose der amerikanischen Forschungsagentur "Education Futures": 2015, so heißt es dort, werde mit dem "Manhattan Project" das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis gesprengt und 2020 den Kindern der neuen "Knowmads"-Gesellschaft vom Schulbesuch abgeraten. 2023 würden dann im Staat New York vier Fünftel der Schulen geschlossen, 2030 werde der ungleiche Zugang armer und reicher Länder zu den neuen Lerntechnologien als akutes Problem in Erscheinung treten und 2032 würden die letzten Lehrer in den Ruhestand gehen. Sollten unsere bestehenden Bildungsanstalten diese Entwicklung verschlafen, so warnen die französischen Autoren, dann würde der Markt in der Bildungspolitik dem Staat das Heft aus der Hand nehmen, wie dieser es einst der Kirche abgenommen habe.
Dieses Szenario mag reichlich spekulativ anmuten. Fakt ist, dass die Schule ihrem eigenen Anspruch, zugleich Wissensvermittlung, Berufsvorbereitung und Stiftung von Gemeinschaftssinn zu liefern und nebenbei noch kritisches Denken zu lehren, nicht mehr gerecht wird. Mit seinem Leistungs- und Elitekult hat das französische Bildungssystem auf der einen Seite jenes Modell mitgeprägt, das in manchen, vornehmlich ostasiatischen Ländern den schulischen Leistungsdruck auf die Spitze treibt. Auf der anderen Seite wird in den Problemvierteln, wo die Lernziele längst hinter dem Ziel der Bevölkerungsintegration zurückgetreten sind, genau diese Integration fast unmöglich gemacht, weil keine Inhalte mehr da sind, auf die sie sich stützen kann. Das ist unlängst deutlich geworden, als nach den Pariser Attentaten gegen Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt an allen Schulen eine Schweigeminute verordnet wurde.
Viele Lehrer standen der Weigerung ihrer Schüler, für die ermordeten Charlie-Zeichner still zu halten, ratlos gegenüber. "Bei jeder neuen Krise sind wir Lehrer allein in der ersten Reihe", konstatiert bitter Monique Gruneisen, die in einem Gymnasium der Pariser Vorstadt Antony Geschichte unterrichtet. Sie hatte in ihrer Klasse während der Schweigeminute zwar keine Probleme, musste ihren Schülerinnen nordafrikanischer Herkunft aber doch Rede und Antwort stehen, warum solche Gedenkminuten und Staatstrauertage nicht auch bei anderen Vorfällen stattfinden. Besser als eine Minute Schweigen wären drei Stunden Diskussion unter den Lehrern über konkrete Verbesserungen des Klimas gewesen, kommentiert trocken der Wirtschaftslehrer Philippe Watrelot aus einem anderen Vorstadtgymnasium.
So viel den Lehrern am Prinzip der "Égalité" liegt, so bereitwillig geben sie heute die wachsende reale Chancenungleichheit zu. Die Schüler aus den Problemvierteln mit zu großen Klassen seien dazu übergegangen, nicht mehr passiv als Opfer, sondern als freiwillige Akteure ihres Versagens aufzutreten: Das sei weniger demütigend gegenüber einer Gesellschaft, die sie schon abgeschrieben habe - sagt die Pariser Französischlehrerin Sophie Audoubert. Die Schwierigkeiten kommen aber auch aus dem System selbst durch die ständigen Lehrplanwechsel. Aus dem Geschichtsstoff "Mittelmeerraum im 12. Jahrhundert" sei für die Gymnasialstufe drei Jahre vor dem Abitur das Thema "Christliches Mittelalter" geworden, erklärt Monique Gruneisen - was bei den Schülern zwangsläufig die beleidigte Frage nach sich ziehe: Und wo bleibt der Islam? Die Schule der Republik darf darauf nur sachlich-historische Antworten geben. Für das fürs nächste Jahr angekündigte neue Unterrichtsfach "Moral und Staatsbürgerkunde" sind das nicht die besten Voraussetzungen.