Zahl der Abtreibungen in Bayern steigt:Kind oder Wohlstand?

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Negativtrend im Freistaat: Ausgerechnet im katholischen Bayern steigt die Zahl der Abtreibungen. Als Grund geben viele Frauen an, dass sie Angst hätten, sich das Kind nicht leisten zu können. Das Sozialministerium reagiert - mit Unverständnis.

Anja Reiter

12.325 Frauen haben sich im vergangenen Jahr in Bayern für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden. Laut dem Landesamt für Statistik sind das 5,4 Prozent mehr als noch 2010. Ausgerechnet im katholischen Bayern, Land der konservativen CSU-Familienpolitik, gibt es wieder mehr Abtreibungen - anders als im Rest der Republik, wo die Zahlen zurückgehen.

Manche Mediziner befürchten, dass der Test mit seiner Fokussierung auf Trisomie 21 "ungute gesellschaftliche Signale" sende. (Foto: dpa)

Über die Frage, warum das so ist, zerbricht sich Barbara Zettler den Kopf. Als Leiterin des Beratungszentrums Donum Vitae in Memmingen sitzt sie regelmäßig Frauen gegenüber, die vor der schwierigen Entscheidung stehen: Will ich mein Kind bekommen oder soll ich die Schwangerschaft abbrechen? 2011, sagt Zettler, sei ein Jahr der Zweiflerinnen gewesen.

Im Vergleich zu 2010 verzeichnete Donum Vitae in Memmingen um ein Viertel mehr "Schwangerschaftskonfliktberatungen" - so werden die Beratungsgespräche auf Bürokratendeutsch genannt, zu denen Frauen vor einer Abtreibung gesetzlich verpflichtet sind.

Die Zweifel, die die Frauen plagen, sind vielfältig: Angst vor Verantwortung, eine Krise in der Partnerschaft, psychische Probleme. Es sind immer wieder dieselben Beweggründe für einen Schwangerschaftsabbruch, die Barbara Zettler zu hören bekommt. Eine Sorge scheint aber in letzter Zeit stärker zu werden: Frauen haben zunehmend Angst, sich das Kind finanziell nicht leisten zu können.

Das Sozialministerium lässt finanzielle Sorgen nicht gelten

"Viele haben das subjektive Gefühl: Der Staat sagt, wir sollen Kinder bekommen - aber was tut er dafür?", erzählt die Schwangerschaftsberaterin. Hinzu kämen die erschwerten Anforderungen in der modernen Arbeitswelt. Zettler zählt auf, womit sie in den Beratungen von Frauen konfrontiert wird: "Arbeitslosigkeit, Leiharbeitsfirmen, befristete Arbeitsverträge. Das ermutigt Frauen nicht gerade dazu, ein ungeplantes Kind zu bekommen."

Im Sozialministerium will man aus Barbara Zettlers Erfahrungen keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Denn nicht jede Frau, die in einer Konfliktberatung über ihre Sorgen spricht, treibe später auch wirklich ab. Ein Ministeriumssprecher weist darauf hin, dass auch in Bayern seit 2004 Jahr für Jahr immer weniger Frauen abgetrieben hätten - 2011 sei womöglich nur als Ausreißer zu werten.

"Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten." Außerdem gibt er zu bedenken, dass Bayern - trotz der gestiegenen Zahlen - bundesweit noch immer die geringste Abbruchquote vorzuweisen hätte. Dass immer mehr Frauen finanzielle Sorgen als Grund für eine Abtreibung nennen, will er so nicht gelten lassen. Mit der Einführung des Elterngeldes habe das Land Bayern Mütter wirtschaftlich gestärkt.

Bei solchen Aussagen kann Doris Zieglgruber nur den Kopf schütteln. Sie berät schwangere Frauen bei Donum Vitae in Landshut. Für sie ist die Einführung des Elterngeldes eine eindeutige Verschlechterung gegenüber dem "alten" Erziehungsgeld. "Das Elterngeld sichert nur Frauen ab, die berufstätig waren. Alle anderen Frauen bekommen ein Basisgeld von nur 300 Euro."

Das Thema Finanzen ist auch in ihrem Beratungszimmer in Landshut ein ständiges und leidiges Thema: Jede zweite Frau, die 2011 in eine Konfliktberatung gekommen war, klagte über finanzielle Sorgen. Manchmal nicht ganz unverschuldet: Junge Familien würden oftmals in Konsumfallen tappen, die Schulden für die teure Einrichtung würden sie nur in Raten zurückzahlen können. Im Verhältnis zu ihrem Konsumverhalten seien die Einkommen der Jungfamilien zu niedrig und ihre Arbeitsplätze ungesichert. "Bei uns arbeiten viele Männer im Flughafenbereich. Die haben überwiegend befristete Arbeitsverträge", sagt Zieglgruber.

Psychische Erkrankungen nehmen zu

Dennoch sind die Finanzsorgen nicht die Hauptgründe für Frauen, über eine Abtreibung nachzudenken. In Landshut haben 85 Prozent der Frauen angegeben, sich psychisch oder physisch überfordert zu fühlen. Ähnliches kann auch Beate Schlett-Mewis erzählen, die seit 20 Jahren bei Pro Familia in Würzburg in der Schwangerschaftsberatung tätig ist: Auch in ihren Sitzungen klagen immer mehr Frauen über psychische Probleme - und entscheiden sich deshalb für eine Abtreibung. "Die Frauen erzählen: Ich hatte einen schlechten Winter, leide an Depressionen, habe kaum die Kraft, mich selbst zu versorgen. Wie soll ich das bloß mit einem Kind schaffen?" Psychische Erkrankungen seien häufiger und heftiger als noch vor ein paar Jahren.

Doch auch die Angst vor einem sozialen Abstieg sei größer geworden. "Früher sagte man sich: Wo drei Kinder Platz haben, kriegen wir auch ein viertes durch." Die generationenübergreifende Großfamilie, in der alle gemeinsam anpacken, sei ein Auslaufmodell. Die moderne Frau müsse Flexibilität beweisen: Viele hätten fürs Studium oder einen neuen Job die Heimat verlassen, wo einst die Verwandtschaft bei der Kinderpflege aushalf, müssen sich Frauen heute alleine durchkämpfen - insbesondere, wenn sie auch noch alleinerziehend sind.

Eine positive Nachricht haben jedoch alle Beratungsstellen zu vermelden: Junge Leute seien heute immer besser aufgeklärt. So gehe seit Jahren die Zahl der Teenagerschwangerschaften in Bayern zurück. Die meisten ungewollt Schwangeren, die in Konfliktberatungen über ihre Sorgen sprechen, sind zwischen 18 und 25 Jahre alt. Ist die ungewollte Schwangerschaft auf nachlässige Verhütung zurückzuführen, spiele oft die Bildung eine Rolle.

Oder auch das Einkommen, wie Beate Schlett-Mewis berichtet: "Manche Schwangere erzählen uns, sie haben kein Geld für Verhütungsmittel. Wer von Hartz IV lebt, für den sind Verhütungsmittel eben nicht die oberste Priorität."

© SZ vom 19.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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