Unter Bayern:Der Ohrenzeuge

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Die teilnehmende Beobachtung ist nicht nur eine Methode von Soziologen, sondern auch von Journalisten. Dabei lässt sich allerhand erfahren, über das Maibaumaufstellen zum Beispiel, aber auch über Autos, die eher Dreckskisten sind

Kolumne von Sebastian Beck

Zu den ergiebigsten Forschungsmethoden der Soziologie, aber auch des Journalismus gehört die teilnehmende Beobachtung. Konkret funktioniert sie so, dass man sich wo hinsetzt und lauscht. Die Methode liefert erstaunliche Nachrichten aus dem Leben außerhalb der Filterblasen. Neulich in der Sauna unterhielten sich zwei Männer und eine Frau übers Maibaumaufstellen. Es ging um die Frage, ob das immer noch die Burschen alleine machen oder ob jetzt auch die Weiberleut mittun dürfen. Antwort: Weiberleut dürfen in einigen Dörfern mitmachen. Die nächste Frage war, ob auch Geschiedene mitmachen dürfen, was kontrovers diskutiert wurde. Antwort: uneinheitlich. Der teilnehmende Beobachter verstieß an dieser Stelle des Gesprächs gegen eine Grundregel und mischte sich ein. Er fragte, ob denn auch all jene mitmachen dürfen, die fremdgehen? Antwort: keine. Der Beitrag wurde ignoriert. Die Frau fuhr fort, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis auch "Negerkinder" beim Maibaumaufstellen mithelfen dürften, schließlich seien sie ja eh schon da und da könnten sie auch gleich mit anpacken. Danach brauchte der teilnehmende Beobachter eine Abkühlung.

Am Neujahrstag unterhielten sich zwei Rentner in einer trostlosen Supermarktbäckerei. Davor stand ein betagtes Mercedes C-Klasse-Modell (W 203), silbergrau. Der Besitzer sagte zu seinem Spezl, das sei kein Mercedes mehr, sondern eine Dreckskiste. Er habe schon zweimal die Zylinderkopfdichtung wechseln lassen, jetzt sei die Steuerkette dran. Für das Geld hätte er sich schon einen neuen Mercedes kaufen können, aber die taugten ja auch nichts mehr. Außerdem ginge dann der ganze Krampf wieder von vorne los. Der Spezl sagte, vielleicht habe er ja bloß ein Montagsauto gekauft. Der Besitzer: Es gebe keine Montagsautos mehr, weil Autos sowieso von Robotern gebaut würden, denen sei der Wochentag wurscht. Der Spezl: Dann solle er halt einen Kulanzantrag stellen. Mercedes sei eine Firma, die sich qualitative Ausrutscher nicht leisten könne. Der Besitzer: Kulanz ja ... aber bei dem alten Karren? Das sprach auch dem teilnehmenden Beobachter aus dem Herzen, der diesmal aber professionell schwieg. Der Besitzer wirkte resigniert. Er stieg bald darauf in seine Dreckskiste und fuhr heim.

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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