Unter Bayern:Das bayerische Angkor Wat

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Um seltsame religiöse Bräuche zu erleben, muss man gar nicht weit fahren: Den Katholizismus in seiner ganzen archaischen Wucht gibt es 70 Kilometer vor den Toren Münchens

Von Sebastian Beck

An diesem Wochenende wird der zweite Fastensonntag gefeiert. Für die meisten Menschen in Bayern zählt das zur Kategorie des unnützen Wissens, vergleichbar dem Gewicht der Bavaria in München: 87,37 Tonnen. Die katholische Glaubenslehre gehört inzwischen genauso wenig zum Allgemeingut wie das Tibetanische Totenbuch oder der Tao te king von Laotse. Der Legende nach ist Bayern zwar das Land, in dem die Menschen am Sonntag erst in die Kirche und dann ins Wirtshaus gehen. In Wirklichkeit besuchen gerade noch zehn Prozent der Katholiken einen Gottesdienst. Die Kirche hat so stark an kulturellem und politischem Einfluss verloren, dass sich nicht einmal mehr die Kabarettisten ihrer erbarmen: Wer will schon auf jemanden einprügeln, der eh am Boden liegt?

Umso erstaunlicher ist es, dass sich in der säkularisierten Welt noch eine Exklave wie der Wallfahrtsort Altötting gehalten hat, das bayerische Angkor Wat. In ihrer suggestiven Wirkung steht die Gnadenkapelle einem Tempel in Südostasien in nichts nach. Die gesamte Stadt mit ihrer Architektur und ihrem religiösen Leben ist letztlich auf einen einzigen Punkt hin ausgerichtet: auf die Figur der Schwarzen Madonna, die seit mehr als 600 Jahren hier verehrt wird. Das innerste Oktogon der Gnadenkapelle - ein dunkler, von schwarzen Wänden umstellter Ort - stammt noch aus der Langobardenzeit. In den Nischen ruhen aufgereiht Urnen mit den Herzen der bayerischen Herrscher. Es gibt Menschen, die marschieren erst völlig unauffällig über den Kapellplatz, um sich hier drinnen auf den Steinboden zu werfen und in religiöser Ekstase zu versinken. Andere schleppen nachts das Kreuz um die Gnadenkapelle. Diese ist im Laufe der Jahrhunderte so schwer mit Votivtafeln behängt worden, dass man sich wundert, warum die Kirche unter der Last der seelischen Nöte nicht längst zusammengebrochen ist.

Altötting ist ein mystischer und zugleich ein seltsamer Ort. Denn all das Vertraute, das Bayern über Jahrhunderte geprägt hat, tritt einem hier so fremd und archaisch entgegen - nur 70 Kilometer östlich von München. Wer das nicht glaubt, der sollte es einmal selbst miterleben: Jeden Tag um 18 Uhr wird in der Altöttinger Gnadenkapelle der Rosenkranz gebetet. Eintritt frei.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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