SZ-Serie: Bayern-Inventar, Folge 3:Verdrängtes Grauen

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Simon Gammel wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet. Davon zeugt seine durchlöcherte Pickelhaube. Sein Urenkel Alexander durfte damit spielen - auch so wollte der Uropa das Leid hinter sich lassen

Von Dietrich Mittler, Amberg

Viel hätte nicht gefehlt, und kein Mensch hätte mehr die durchschossene Pickelhaube des Soldaten Simon Gammel aus dem Ersten Weltkrieg zu Gesicht bekommen. "Am liebsten hätte der Urgroßvater den Helm verheizt", sagt sein Nachkomme Alexander Hirschmann-Titz. Vom Krieg wollte der "Gammel-Opa", wie sie ihn in der Familie liebevoll nennen, nichts mehr wissen. "Er muss an der Front Furchtbares erlebt haben", sagt Hirschmann-Titz, der mit Frau und Tochter im oberpfälzischen Amberg lebt.

Manch andere haben im Tagebuch festgehalten, worüber Simon Gammel, der Bauernsohn aus dem niederbayerischen Gisseltshausen bei Rottenburg an der Laaber, sein restliches Leben lang meist schwieg. Spuren dieses Grauens, wenn auch emotionslos und abgehackt, finden sich etwa im Tagebuch des Generals Nikolaus Ritter von Endres: "Große Verluste. 16. I. R.", hält der im Telegrammstil fest. Wenige Tage später notiert er: "Unglücklichster Augenblick im bisherigen Feldzug! Zum 1. Mal wackeln meine Nerven."

Simon Gammel als junger Soldat. (Foto: Museum der bayerischen Geschichte)

Simon Gammel diente im 16. Königlich-Bayerischen Infanterie-Regiment. Sein unglücklichster Augenblick im Feldzug wurde eingeleitet durch französisches Trommelfeuer. Ob er den ungeheuren Schlag gegen seinen Schädel überhaupt spürte? Ein Granatsplitter zerfetzte das Leder seiner Pickelhaube, drang seitlich in seinen Kopf ein und auf der anderen Seite wieder aus. Durch die Wucht der Explosion brach der Unterstand über Gammel zusammen. Kameraden gruben den Verschütteten aus. Er kam ins Lazarett, die körperlichen Beschwerden wichen. Später wurde Gammel wieder an die Westfront abkommandiert. Er zitterte am ganzen Leib, und ein Arzt erkannte: Das ist kein Schüttelfrost, der Mann ist traumatisiert. So kehrte Gammel heim nach Niederbayern, im Gepäck den durchschossenen Lederhelm und seinen Wehrpass.

"Wenn wir als Kinder Räuber- und Gendarm spielten, haben wir den alten Helm oft aufgehabt", erinnert sich Hirschmann-Titz. Und freilich habe er den "Opa", wie er seinen Urgroßvater nennt, gefragt, warum die Pickelhaube so durchlöchert ist. Dessen Antwort fiel stets kurz aus: "Ja, do hob i so an Granatsplitter kriagt." Auch über den zweiten Schicksalsschlag wollte Gammel vor Kindern nie viel reden: Sein Sohn Paul war im Zweiten Weltkrieg gefallen.

Urenkel Alexander Hirschmann-Titz durfte mit der zerlöcherten Pickelhaube von Simon Gammel Räuber und Gendarm spielen. (Foto: Dietrich Mittler)

Doch, was der Urgroßvater nicht erzählte, das erfuhr Alexander Hirschmann-Titz von seiner Oma, Simon Gammels Tochter Theresia. Bei ihr in Gisseltshausen hat er den überwiegenden Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht. "Die Oma hatte in der Küche ein Bild von Paul hängen, an dem seit Kriegsbeginn täglich abends zwei Kerzen angezündet wurden, damit der Bruder heil und gesund wieder heimkommt", erinnert sich der mittlerweile 57-Jährige. "An jenem Tag aber, an dem der Paul gefallen ist, sind beide Kerzen runtergefallen", berichtete ihm die Oma. Doch was waren diese gruseligen Geschichten aus dem Blickwinkel eines Kindes schon gegen den nur wenige hundert Meter vom Haus der Großeltern entfernten Vierseithof des Urgroßvaters, der nach der Schule zu Abenteuern einlud. "Da zu spielen, das war für uns Kinder das Paradies", sagt Hirschmann-Titz. Der Urgroßvater habe Kinder geliebt. Auf seinen gut 8000 Quadratmetern Land pulsierte das Leben. Als begeisterter Jäger habe er die Buben auch mal mit einer Schrotbüchse auf selbstgemalte Zielscheiben schießen lassen, befestigt an einer stattlichen Weide nahe der Laaber. "Er war schon ein vogelwilder Opa", sagt sein Nachkomme und lacht: "Jetzt, wenn du das machen würdest, da würdest du eingesperrt."

Aber damals, da waren noch ganz andere Dinge möglich. So ließ Gammel eines Tages wohl auch den alten Brauch des Christkindl-Anschießens wieder aufleben. An Heiligabend trat er vor die Tür, schoss in die Luft. "Dann haben alle im Dorf gewusst, jetzt ist es soweit, dass sie die Geschenke auspacken können." Eines Tages aber passierte es: "Die Schrotladung traf die Niederspannungsleitung über seinem Anwesen." Stromausfall im ganzen Dorf. Doch selbst dies haben sie dem Gammel-Opa nicht übel genommen. Die Kinder schon gar nicht: "Er war ein liebenswerter Mensch", sagt Hirschmann-Titz.

Alexander Hirschmann-Titz erinnert sich, dass sein Urgroßvater die zerschossene Pickelhaube am liebsten verheizt hätte. (Foto: Museum der bayerischen Geschichte (MdbG))

Der 57-Jährige vermutet, dass sein Urgroßvater nach den Schrecken des Krieges und dem Tod der geliebten Frau jeglichen Schmerz ausblendete - bei gutem Essen, Wirtshausbesuchen und bei der Jagd. Kein Wunder also, dass Hirschmann-Titz seinen Uropa nur mit schönen Ereignissen in Zusammenhang bringt. Dazu etwa gehört auch der Abend, an dem er 1969 mit dem Gammel-Opa auf dessen roter Couch die erste bemannte Mondlandung erlebte - völlig überwältigt von den Bildern. Und dann der Kommentar des Urgroßvaters: "Jetzt miassens da aa scho auffi."

Kriegserinnerungen hatten in diesem Lebenskonzept keinen Platz. Als der örtliche Veteranenverein eine Reise zu den ehemaligen Schlachtfeldern an der Westfront organisierte, lehnte Gammel das mit den Worten ab: "Da war ich schon, und dort hat es mir gar nicht gefallen." Das deckt sich mit den Erfahrungen des Urenkels: "Lange nach dem Tod des Urgroßvaters im Jahr 1977 habe ich unter Heuballen seinen Wehrpass gefunden. Den hat er einfach irgendwohin geschmissen." Auch die Pickelhaube wäre entsorgt worden, hätte sie nicht Simon Gammels Tochter an sich genommen. Theresia Rott war eine der wenigen, die um das Leid wussten, das ihr Vater bis zu seinem Tod mit 84 Jahren von sich fernhielt. Dieses Wissen gab sie dann an ihre Tochter Christa Rott weiter, die wiederum mit dem Heimatforscher Franz Moises das nicht nur vom Opa verdrängte Kriegsgrauen für die Nachwelt dokumentieren wollte.

Simon Gammel im Kreis seiner Familie. Über seiner Erlebnisse im Krieg wollte er nicht sprechen. (Foto: privat)

Inzwischen ist auch Christa Rott gestorben. Alexander Hirschmann-Titz ist jetzt der Letzte in der Familie, der den Urgroßvater noch so intensiv erlebt hat - wenn auch fast ausschließlich von seiner unbeschwerten Seite. Gerade aber diese Lebensfreude, die habe er vom Urgroßvater geerbt, sagt er. Und natürlich werde er sich in Regensburg im Museum der Bayerischen Geschichte den durchschossenen Helm ansehen. "Seltsam ist nur eines", sagt er, "früher habe ich mit der Pickelhaube gespielt, und nun werde ich sie nicht mal mehr anfassen dürfen."

Die Exponate wurden dem Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zur Verfügung gestellt, das im Mai 2019 eröffnen soll. Näheres dazu unter www.hdbg.de.

© SZ vom 17.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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